Der Wille der Bürger ist groß, den Flüchtlingen zu helfen. Doch Engagement ist nicht alles, wenn die Verständigung nicht klappt. Maité Gressel vom Europäischen Institut für Migration, Integration und Islamthemen in Korntal wirbt für den interkulturellen Dialog.

Korntal-Münchingen -

 
Was ist Kultur? Jedenfalls hat sie normativen Charakter. Dann nämlich, wenn aus ihr ungeschriebene Regeln und Gesetze abgeleitet werden, die ein Zusammenleben der Gesellschaft erst ermöglichen. Maité Gressel aus Korntal kennt vor allem die Kultur der arabischen Länder, aus denen sehr viele Flüchtlinge stammen.
Frau Gressel, Sie haben Einblick in das Leben in der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge. Dort leben Menschen aus Kulturen zusammen, die sich im Heimatland bekriegen. Warum soll in Karlsruhe gelingen, was in der Heimat nicht funktioniert?
Es gibt auch dort Konflikte. Der Vorteil von Karlsruhe ist, dass die Leute dort oft nicht sehr lange sind. Sie kommen hier an, und gehen davon aus, sie hätten es geschafft. Dann merken sie, dass es noch einmal von vorn beginnt, nur auf einer anderen Ebene. Die Unsicherheit bleibt also. Aber es gibt auch die positiven Beispiele: Menschen, die sich im Heimatland bekriegen, sind in Karlsruhe alle in der gleichen Situation, und das Zusammenleben funktioniert.
Nennen Sie ein konkretes Beispiel.
Muslime und Christen, die sich dort ein Zimmer teilen müssen, können sehr gute Freunde werden. Das ist in ihren Heimatländern nicht unbedingt möglich. Nicht weil sie es dort selbst nicht wollten, sondern weil es die äußeren Strukturen nicht ermöglichen.
Die Mitarbeiter lernen vor allem im Tun. Wie kommunizieren die Ehrenamtlichen mit den Flüchtlingen?
Das eine, offensichtliche Problem ist, dass die Flüchtlinge kein Deutsch können. Das andere ist die interkulturelle Kommunikation. Da gab es zu Beginn kritische Momente. In der arabischen Kultur soll eine Frau nicht mit einem Mann alleine am Tisch sitzen: denn es kann missverstanden werden, wenn sich eine Frau einem einzelnen Mann zuwendet. Eine andere Situation: Man gibt Kindern in Anwesenheit der Eltern kein Geschenk. In arabischen Kulturen bedeutet dies, den Erwachsenen zu degradieren.
Wie lässt sich diese interkulturelle Kommunikation lernen?
Interkulturelle Kommunikation ist zunächst nichts, was man lernt, sondern was automatisch passiert, wenn ich mit jemandem aus einer anderen Kultur rede. Wichtig ist, dass man sich der Existenz verschiedener Kommunikationsarten bewusst ist. Wir in Deutschland sind in der Regel sehr direkt und sachorientiert.
Das heißt: wer etwas von jemandem wissen möchte, ruft schnell an, um die Information zu erfragen.
Das ist völlig in Ordnung, dann kann das Gespräch auch sehr kurz sein. In anderen Kulturen gibt es diese direkte, sachorientierte Kommunikation nicht. Da geht es um Beziehung. Ich muss erst fragen, wie es der Person geht, man muss sich austauschen, um die Beziehung zu stärken. Dann kann ich um die Information bitten. Stelle ich nur meine Frage, hieße das, an der Person nicht interessiert zu sein, sondern sie nur für irgendetwas zu brauchen.
Das denken wir hierzulande nicht mit.
Ja, wir denken, der benötigt etwas, also helfe ich ihm. Wir sind sehr extrem mit unserer Direktheit im weltweiten Vergleich. Ein anderes Beispiel: Menschen aus orientalischen Ländern empfinden die Frage nach ihrem Namen und ihrer Tätigkeit als plump und unhöflich.
Hier ist das eine Einstiegsfrage ins Gespräch, wenn man jemanden kennenlernt.
Da macht sich wieder die Sachorientierung bemerkbar. In anderen Kulturen fragt man erst einmal nach der Familie, um die Person kennen zu lernen, um eine Beziehung zu schaffen. Die Arbeit spielt aber auch keine so große Rolle, weil sich diese Menschen nicht über die Arbeit definieren, sondern über die Beziehungen, die sie pflegen. Für uns ist es eher unüblich, nach der Familie zu fragen, weil es etwas Persönliches ist. Das sind grundsätzliche Dinge, die man auch leicht lernen kann.
Vielmehr lernen sollte?
Ja, andernfalls gerät man eben sehr leicht in Situationen, in denen man sich nicht versteht oder Verletzungen auftreten, etwa wenn sich die Menschen nicht als Menschen wahrgenommen fühlen. Will ein deutscher Flüchtlingshelfer etwa nur bürokratische Angelegenheiten klären und lehnt aus Zeitnot den angebotenen Kaffee ab, dann ist etwas in der Beziehung gestört – und es wird schwierig sein, dem Flüchtling künftig zu helfen oder Ratschläge zu geben. Er wird mir nicht mehr vertrauen, weil er nicht das Gefühl hat, ich sei an ihm selbst interessiert. Natürlich kann es im Einzelfall auch ganz anders sein. Ich kenne durchaus Araber, die anrufen, um nur eine Information zu erhalten – weil sie wissen, wie es in Deutschland funktioniert. Flüchtlinge, die hier ankommen, gehen zunächst davon aus, dass es normal ist, wie sie es machen.
Deutsche wiederum halten ihre Verhaltensweise für normal.
Das ist das schwierige an der Kultur, dass man erst etwas anderes kennenlernen muss, um zu erfahren, dass es auch anders gehen kann. Wenn man dafür nicht offen ist, wird man nicht dahinter kommen, dass es mit der Kultur zusammenhängt – sondern wird denken, die Person sei komisch. Aber auch die Flüchtlinge haben sich darüber wohl noch keine Gedanken gemacht. Wenn erwartet wird, dass sie sich hier integrieren, muss man ihnen auch die Chance dazu geben und erklären, wie es hier in Deutschland funktioniert.
Das heißt aber nicht, dass die Migranten das deutsche Denken annehmen müssen.
Nein, diese Assimilation kann nicht funktionieren. Man muss den Flüchtlingen ermöglichen, die deutsche Kultur verstehen zu lernen. Es ist dann ihre Aufgabe, das Wissen anzuwenden, um hier leben zu können, ohne ständig anzuecken. Sie müssen in manchen Dingen aber auch einfach funktionieren – etwa was die Ämter betrifft.
Gleichwohl werden Flüchtlinge Fehler, die passieren, nicht unbedingt auch als solche bezeichnen.
Ja, die deutsche Kultur ist stark schuldorientiert. Wer gegen Gesetze verstößt, macht sich schuldig, und die Motive spielen eine untergeordnete Rolle. In den Schamkulturen, also den orientalischen, asiatischen, vielen afrikanischen und auch osteuropäischen Ländern hat man hingegen dann ein Problem, wenn ein anderer erfährt, dass man einen Fehler gemacht hat.
Hierzulande kann man durchaus auch souverän mit Fehlern umgehen.
In den Schamkulturen ist aber die Beziehung zu der anderen Person gestört. Das Hauptaugenmerk dieser Menschen liegt darauf, das Gesicht nicht zu verlieren. Man muss zeigen, dass man dem gerecht wird, was von einem erwartet wird.
Das ist dann aber noch viel stärker eine Frage der Reglementierung.
Aber nicht der festgeschriebenen Gesetze. Es ist eher ein Verhaltenskodex. Die tradierten Regeln sind wichtiger als das, was ein Gesetzgeber vorschreibt.
Der Verhaltenskodex ist religiös begründet?
Nicht nur. Religion oder Tradition – das ist oft ein fließender Übergang. Das ist bei uns ganz ähnlich. Viele unserer Normen und Werte sind aus dem Jüdisch-Christlichen entstanden. Du sollst nicht töten, etwa. Die Gleichstellung von Mann und Frau lässt sich auch darauf zurückführen.
Kinder von Migranten wachsen in Deutschland damit auf. Zuhause aber leben sie oft die Kultur der Eltern – und bilden letztlich für sich eine eigene, dritte Kultur heraus.
Diese „Cross Culture Kids“ finden manches in der deutschen Kultur nicht gut, weil sie auch etwas anderes kennen. Viele wachsen zweisprachig auf. Das ist ein Schatz, den man ihnen schmackhaft machen muss, weil viele das nicht als Privileg empfinden – vor allem wenn es eine Sprache ist, die hier nicht angesehen ist. Zum anderen kann es auch für die deutschen, monokulturell aufwachsenden Kinder ein Schatz sein, von Gleichaltrigen zu erfahren, dass es etwas anderes gibt. Es gibt durchaus Elemente in anderen Kulturen, die gut und schön sind, die bei uns zu kurz kommen. Ich denke da vor allem an die Beziehungsorientierung, die in manchen Gesellschaftsschichten immer mehr abnimmt.
Hat Sie selbst denn die Arbeit mit Flüchtlingen verändert?
Ja. Was Spontanität und Gastfreundschaft anbelangt, habe ich einiges gelernt. Das muss sich jeder bewusst machen, der mit Migranten arbeitet: die Arbeit verändert einen, denn man kommt ins Nachdenken. Wenn ich mit anderen Handlungsweisen konfrontiert bin, werde ich darüber nachdenken müssen. Dann kann ich mich entscheiden. Auch die deutsche Gesellschaft wird sich verändern durch die Migranten, die zu uns kommen. Aber das muss ja nicht schlecht sein, denn die Gesellschaft kann an jedem Punkt aufs Neue entscheiden, ob sie die Veränderung zulässt oder nicht.