Während drinnen im Stuttgarter Neuen Schloss die Politiker mit den Vertretern der Kommunen, der Wirtschaft und Gesellschaft um Kompromisse ringen, demonstriert der baden-württembergische Flüchtlingsrat draußen für mehr Humanität.

Stuttgart - Hundert Aktivisten des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg scharen sich zusammen mit Neugierigen um eine Kastanie unweit des Stuttgarter Kunstgebäudes. Dort hat der Landtag von Baden-Württemberg während der Renovierung sein Ausweichquartier gefunden. Den Platz haben sie von der Ordnungsbehörde zugeteilt bekommen. „Wir wollten möglichst nah dran sein“, so eine Aktivistin.

 

Als sich der Himmel über der Stuttgarter Innenstadt verfinstert, lässt die Menge 200 schwarze Luftballons steigen. Mehr Symbolik geht kaum noch. Jeder Ballon soll für fünf abgelehnte Asylbewerber stehen. Jeder ist mit einem Zettel versehen, auf dem eine Botschaft des Flüchtlingsrates steht. Sie fordern ein Bleiberecht für Asylbewerber. „Mehr als tausend Menschen sind in diesem Jahr in Baden-Württemberg abgeschoben worden“, ruft Manfred Budzinski, Mitglied des erweiterten Vorstands des Flüchtlingsrates, in die Menge. Das sind fast so viele wie 2014.

Für Budzinski und die Seinen stellt sich die Flüchtlingsfrage recht einfach dar. Sie sind für ein Bleiberecht. Sie unterscheiden nicht, ob ein Mensch aus einem Bürgerkriegsland wie Syrien gekommen ist, ob er im Iran politisch oder religiös verfolgt wird oder ob er den Weg aus Serbien, Montenegro, Kosovo oder Albanien und Algerien nach Deutschland findet, weil er sich hier ein besseres Leben erhofft.

Kapazitäten sollen erhöht werden

Sie müssen um keine Kompromisse ringen bei den Fragen der Unterkünfte, Zuweisungen und Flüchtlingszahlen. Derlei Abwägungen sind den Aktivisten des Flüchtlingsrates fremd. Genauso wie die Welt der Politiker, der Vertreter der Städte und Gemeinden, der Wirtschaft und Gesellschaft, von denen sich 70 an der Zahl auf Einladung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann drinnen im Neuen Schloss zum zweiten Flüchtlingsgipfel versammelt haben.

Nach Baden-Württemberg kommen im laufenden Jahr nach den neuesten Zahlen mindestens 52 000 neue Flüchtlinge, womöglich werden es sogar 80 000 werden. Wo sollen diese Menschen hin? Die grün-rote Landesregierung will bis Jahresende die Kapazitäten in den schon jetzt dreifach überbelegten Landeserstaufnahmestellen bis nächstes Jahr um 10 700 Plätze auf rund 20 000 erhöhen.

Um 30 Millionen Euro wird das Landesförderprogramm „Wohnraum für Flüchtlinge“ aufgestockt. Wird das reichen? Um die Engpässe in den Kreisen zu lindern, will das Land ihnen kostenlos Liegenschaften überlassen. Die Landratsämter beginnen, die Turn- und Sporthallen zu belegen. Vereine und Schulen bleiben außen vor. Konflikte sind so programmiert.

Für den Flüchtlingsrat gilt das Primat der Humanität. Es gebe ja, so Budzinski, eine „gelebte Willkommenskultur“ im Land. Trotz der Anschläge wie in Remchingen bei Karlsruhe. Fast in jeder Stadt und Gemeinde hätten sich Freundeskreise und Initiativen für die Flüchtlinge gegründet. Nun müssten sie erleben, wie die guten politischen Vorsätze angesichts der gestiegenen Flüchtlingszahlen wieder „über Bord geworfen“ werden.

Akustisch untermalt wird Budzinski vom Roma-Balkan-Express – einer Blaskapelle aus Serbien. Die Roma-Männer sind allesamt Asylbewerber, untergebracht am Bodensee. Sie treten in türkisgrünen Polohemden auf und intonieren „Hava Nagila“, das alte hebräische Volkslied. Der Hornist wird seiner Blaskapelle bald abhandenkommen. Er hat seine Abschiebungspapiere erhalten. „Das sind Staatenlose“, sagt Hans-Werner Blank vom Arbeitskreis Flüchtlinge in Ludwigsburg. „Sinti und Roma bekommen in Serbien, aber auch in dem EU-Land Kroatien keine Ausweise. Wohin sollen sie ausgewiesen werden?“ Da schaue die Politik weg.

Syrer sollen schneller ein Bleiberecht erhalten

Oder sie schaut ganz genau hin. „Rückführungen“ (Kretschmann) von Menschen aus dem Westbalkan sollen bald schneller als die bisher üblichen sechs bis sieben Monate gehen. Auch das hat der Gipfel beschlossen. Weil die meisten von ihnen ohnehin „ohne Bleibeperspektive“ sind. Wenn sie nicht gehen wollen, soll ihr Taschengeld gekürzt und die Arbeitserlaubnis entzogen werden. Syrer hingegen sollen schneller ein Bleiberecht und eine Arbeitsgenehmigung erhalten.

Wenn es mit dem Asyl für Serben, Kosovaren oder Albaner nicht klappt, solle diesen „schaffigen Menschen“ ein „Spurwechsel“ ermöglicht werden, erläutert Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD). Sie dürfen bleiben, wenn sie binnen eines halben Jahres einen Job finden – als Bäcker, Verkäufer oder in der Altenpflege. Dafür müssten die hohen Hürden der Blue-Card geändert werden, wonach nur Leute willkommen sind, die einen Arbeitsvertrag mit 4000 Euro Monatseinkommen präsentieren können.

Wird das alles den Flüchtlingsrat zufriedenstellen? Von Ministerpräsident Winfried Kretschmann wünscht man sich dort schon jetzt einen weiteren, einen „ehrenamtlichen Flüchtlingsgipfel“. Dann sollen ausschließlich die Vertreter der Arbeits- und Freundeskreise für Flüchtlinge und Asylbewerber mit den Politikern zusammenkommen und ihre Erfahrungen im Alltag mit den Fremden darstellen können. „Denn dazu“, hatte der Flüchtlingsratsvorstand Budzinski gemutmaßt, „gibt es heute beim Flüchtlingsgipfel wohl kaum Gelegenheit“. Womit er Recht behalten sollte.