Ist das Fremdeln gegenüber diesem Streit auch ein DDR-Erbe? Meinungen, die der Staatswahrheit zuwiderliefen, wurden ja sanktioniert.
Die Menschen in der DDR, die sich für die friedliche Revolution engagiert haben, befanden sich in der Minderheit. Die Mehrheit verhielt sich abwartend und indifferent. Viele ließen auch die nachfolgende Transformation mehr über sich ergehen, als dass sie sie gestaltet hätten. Sie sahen Vorteile, vor allem solche, die ihren persönlichen Wohlstand betrafen. Das ist per se nichts Schlechtes. Problematisch ist, dass sich viele noch immer nicht mit den politischen und moralischen Grundlagen einer offenen Gesellschaft und eines demokratischen Staates angefreundet haben.
Die Demokratie hat also keine tiefen Wurzeln im Osten. Aber reicht das allein, um das deutlich stärker ausgeprägte Vertrauensdefizit in Parteien, Politiker, Medien zu erklären?
Die Menschen im Westen hatten viel Zeit zu lernen, wie Demokratie geht. Sie erlebten mit den 68ern eine Erschütterung, in der diese unter Beweis stellte, Krisen bewältigen zu können. Krisen wünscht man sich nicht. Wenn man sie meistert, wächst Vertrauen. Im Osten lebten die Menschen über Jahrzehnte in zwei Diktaturen, die einen pseudoreligiösen Heilsanspruch erhoben. Viele Menschen glaubten und wurden zweimal hintereinander tief enttäuscht. Für viele mag auch der Staat Bundesrepublik eine Verheißung gewesen sein. Sie machten sich erneut Illusionen. Sie haben gelernt: denen „da oben“ darf man nicht trauen. Sie meinen, sich im Prinzip nur auf sich selbst verlassen zu dürfen. Sie verharren dem Öffentlichen und Staatlichen gegenüber in einer Art Halbdistanz. Viele verhalten sich egozentrisch. Es gibt nur wenige Citoyens, die die Förderung des Gemeinwohls als Aufgabe verstehen. Viele neigen dazu, sich ins Private zurückzuziehen.