Der neue Mann an der Spitze der Grande Nation wird von seinen Anhängern als François II. gefeiert, in Anspielung an die Ära Mitterand.

Paris - Ein paar Sekunden ist die Nachricht erst alt, da ist auch schon kein Halten mehr. Das Menschenmeer, das sich am Sonntagabend auf die Pariser Place de la Bastille ergossen hat, beginnt hin und her zu wogen. Weiße Fähnchen blitzen auf wie Gischt. Freudenschreie brechen los. Wildfremde Menschen fallen einander um den Hals, haken sich unter, hüpfen wie Vollgummibälle umher.

 

Der Mann, dem der Jubel gilt, der soeben als Sieger der französischen Präsidentschaftswahlen ausgerufen wurde, wird hier erst spät in der Nacht eintreffen. Aber seine Anhänger würden wohl auch bis zum Morgengrauen auf ihn warten. „François II.“, brüllen sie. Der erste François, das war Mitterrand, bis Sonntag der einzige sozialistische Staatspräsident des Landes. François Hollande ist jetzt der zweite.

Während die Genossen ihre Freude über den Wahlsieg in die Welt hinaus brüllen, steigt der Verlierer im Pariser Kongresspalast der Mutualité zum

Rednerpult hinauf. Wann hat man Nicolas Sarkozy jemals so traurig, so aufgelöst erlebt? Die Mühe des Schminkens hat sich der scheidende Präsident vor diesem auch vom Fernsehen übertragenen Auftritt nicht mehr gemacht. Furchen ziehen sich durch das Gesicht. Die Haut schimmert bleich, wirkt wächsern. Er werde Hollande anrufen, ihm viel Glück wünschen, kündigt Sarkozy an.

Für den Rechtsbürgerlichen markiert die Niederlage offenbar nicht nur das Ende einer wechselvollen fünfjährigen Präsidentschaft, sondern das Ende seiner politischen Laufbahn überhaupt. „Nach 35 Jahren in der Politik und zehn Jahren in der Regierungsverantwortung wird mein Platz im Leben ein anderer sein“, prophezeit Sarkozy in düsterem Ton.

Es folgt ein Appell an die eigene Partei, die UMP, in dieser schweren Stunde den Zusammenhalt zu wahren. Als frommer Wunsch dürfte sich das erweisen. Parteichef François Copé hat bereits deutlich gemacht, dass die Niederlage aufgearbeitet werden müsse. Die Messer werden gewetzt, der Tag der Abrechnung naht.

Der Sieg verleiht Flügel, die Aufgaben ziehen nach unten

Hollande sieht zwar weniger mitgenommen aus. Doch so richtig gelöst wirkt auch er nicht. Die Freude über den Sieg verleihe ihm Flügel, die Last der Verantwortung halte ihn am Boden, hat ein Gefolgsmann den Gemütszustand des frisch gekürten Präsidenten beschrieben. In der Kleinstadt Tulle, wo er einst Bürgermeister war und am Sonntagmorgen im Blitzlichtgewitter der Fotografen seinen Stimmzettel in die Wahlurne geworfen hatte, wendet sich der neue Präsident an das Volk. Das Lächeln verhalten, die Miene ernst, appelliert er an die Franzosen, das Land mit ihm aus der Krise zu führen. Mehr Gerechtigkeit, verspricht Hollande, er wolle der Jugend ihren Platz in der Gesellschaft geben, den Europäern Hoffnung machen, ihnen sagen, dass Sparpolitik nichts Schicksalhaftes sei.

Hollande und Sarkozy hatten sich ein Duell auf Augenhöhe geliefert. Beide sind im Pariser Nobelvorort Neuilly aufgewachsen, beide 57 Jahre alt, beide politisches Urgestein, beide überzeugte Europäer. Monate hatten sie auf diesen entscheidenden Tag hingelebt, Hollande sogar Jahre.

Der Überflieger hat den Normalo unterschätzt

Für ihn war es zum Élysée-Palast ja auch der weitere Weg. In der Normandie ist er zur Welt gekommen. Er liebt das Landleben. Kuttelwurst mit Senfsoße mag er besonders. Der Umzug des 13-jährigen François nach Paris, der Besuch mehrerer Elitehochschulen hatte an den aus Kindheitstagen herrührenden Neigungen nichts geändert.

Als Normalbürger hat Hollande sich für das höchste Staatsamt empfohlen. Mut zur Ehrlichkeit hat er damit bewiesen. Intelligenz, Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit, Humor und Fleiß sind seine Stärken. Sie wecken Sympathien. Spektakulär sind sie nicht. Überragendes hat er nicht zu bieten. Bei einem der letzten Wahlkampfauftritte hatten die Genossen es ihm angedichtet. Hollande konnte nur noch enttäuschen.

Im Pariser Sportpalast Bercy war es gewesen. Rock- und Reggae-Bands heizten die Stimmung an. 20 000 Hollande-Anhänger vergaßen, weshalb sie überhaupt gekommen waren. Sie stampften, wippten, johlten, grölten, dass die Tribünen bebten. Mäntel und Jacken fielen zu Boden. Schweiß stand auf den Gesichtern. „Na, seid ihr heiß?“, fragte Najat Vallaud-Belkacem, Hollandes als Moderatorin aushelfende Sprecherin. „Ouiiii!“, schallte es der Frankomarokkanerin aus Tausenden von Kehlen entgegen. Die Stimmung hatte den Siedepunkt erreicht. Die Sozialistin kündigte den Höhepunkt an, den Superstar, den Favoriten im Präsidentschaftsrennen, den Staatschef in spe, François Hollande.

Historische Größe ist Hollande nicht in die Wiege gelegt

Doch der nach allen Regeln des Showgeschäfts als Star Hochgejazzte ist eben keiner. Die rundlichen Gesichtszüge, das schüttere, nachgefärbte Haupthaar, die randlose Brille mit den dicken Gläsern ziehen nicht in Bann. Das Mienenspiel fasziniert auch nicht. Es findet kaum statt. Ob der Politiker nun ernst wird oder sich amüsiert, die Gesichtszüge machen keinen großen Unterschied. So jovial, so freundlich er auch sei, man wisse nie genau, was in ihm vorgehe, sagen Wegbegleiter. Und so oft Hollande auch gejoggt ist, so viele Pfunde er weggehungert hat, um sich für das Präsidentschaftsrennen fit zu machen – die Bewegungen sind linkisch geblieben. Im Pariser Sportpalast suchten die Hände Halt am Pult, ließen es Minuten lang nicht mehr los.

An der Spitze der Sozialistischen Partei hatte Hollande sich den Ruf eines soliden Sachwalters erworben, der zuhören, Brücken schlagen, Kompromisse schmieden kann. Als er 2008 Martine Aubry weichen musste, nahm er den Élysée-Palast ins Visier und begann, an sich zu arbeiten. Zielstrebiger, kämpferischer ist er seitdem geworden. Aber im Kern ist er der solide Sachwalter geblieben, dem man keine Geniestreiche zutraut, dem man aber aufs Wort glaubt, was er sagt. Im Wahlkampf hatte Hollande versichert, dass er Gerechtigkeit schaffen, allenfalls moderat sparen, die Vermögenden schröpfen, die Kinder der Republik schützen will. Selbst der politische Gegner nahm ihm das ab.

Wenn Hollandes Pläne zumal in Wirtschaftskreisen Zweifel, ja Ängste wecken, dann deshalb, weil das Gutgemeinte für Frankreich womöglich nicht gut ist; weil die Märkte den guten Willen nicht honorieren, das Fehlen ernsthafter Sparvorschläge als unsolide Haushaltspolitik auslegen, mit verteuerten Kreditzinsen ahnden könnten. „I’m not dangerous“, „ich bin nicht gefährlich“, hat Hollande bei einer London-Visite Banker beschieden, die sich seine Kritik an der Finanzwirtschaft zu Herzen genommen hatten. Vermutlich haben die Herren ihm auch das geglaubt. Sarkozy hätte den Auftritt im Pariser Sportpalast ganz anders gestaltet. Er hätte ihn genüsslich ausgekostet. Der wendige Wirtschaftsanwalt ist Medienprofi. „Wichtig ist nicht die Wirklichkeit, sondern das, was die Leute wahrnehmen“, lautet sein Motto. Auf der Bühne läuft er zu Hochform auf. Ein begnadeter Redner ist er. Gekonnt vermag er Tempi und Tonlagen zu wechseln, einem Dirigenten gleich mit den Händen Einsätze und Pausen anzukündigen. Wenn Sarkozys Wahlkampfauftritte manchmal enttäuschten, dann aus anderen Gründen. Seine Prinzipienlosigkeit ist bisweilen selbst für Parteifreunde schwer zu ertragen. Als nach der ersten Wahlrunde klar war, dass er sich in der zweiten allenfalls mit den Stimmen der Wähler Marine Le Pens durchsetzen würde, der Chefin des Front National, mutierte er zum Rechtspopulisten, schürte Ängste vor Ausländern und Muslimen. Pragmatismus schlug in Opportunismus um.

Sarkozys Jugend hat in geprägt

Sarkozy hat sehr früh lernen müssen, zu kämpfen. Der ungarische Vater Pal war 1948 vor den Sowjets geflüchtet und ohne Geld und Papiere in Südfrankreich gestrandet. Seine Ehe ging in die Brüche. Der fünfjährige Nicolas wuchs mit seinen Brüdern Guillaume und François fortan bei der Mutter auf. Als Scheidungskind, schmächtiger als die Geschwister, in der Schule nicht sonderlich erfolgreich, weniger wohlhabend als die Klassenkameraden in Neuilly, kämpfte er auf verlorenem Posten um Anerkennung. Der eigene Vater enthielt sie ihm vor. „Was mich geprägt hat, sind die in der Kindheit erlittenen Erniedrigungen“, hat Sarkozy in einem Interview gesagt. Mit 18 Jahren nahm er sich vor, es allen zu zeigen und Präsident zu werden.

Zehn Jahre später wurde Sarkozy 1983 jüngster Bürgermeister Neuillys. 2002 wurde er Innenminister, 2007 Staatschef. Im Élysée-Palast hat er sich dann für alles und jedes verkämpft – und auch für das Gegenteil von allem und jedem. Sarkozys Regierungsstil hat Sehnsucht nach Normalität geweckt, nach einem Mann wie Hollande eben. Der Rechtsbürgerliche hat das verkannt. Das Alphatier hat den Normalo unterschätzt. Im Präsidentschaftswahlkampf hat Sarkozy Parteifreunde wissen lassen, er halte Hollande für eine „totale Null“. Dabei hätte Sarkozy es besser wissen können. Er kennt den Sozialisten seit Jahrzehnten. Immer wieder waren die beiden einander begegnet. Als junge Abgeordnete hatten sie sich geduzt. Gemeinsam prangten sie 2005 auf dem Titelbild von „Paris Match“. Keiner hatte es darauf angelegt. Es hatte sich so ergeben. Der Regierungs- und der Oppositionspolitiker waren schwach geworden, als das Magazin die für ein Ja zur EU-Verfassung Streitenden zum gemeinsamen Fototermin bat. Das Bild war hinterher beiden peinlich. Sarkozy sah sich in seiner Einschätzung bestärkt, dass der Widersacher „niemals das Format eines Präsidenten hat“. Eine Fehler war das, der sich nun gerächt hat.