Auf der berühmtesten Stadionbaustelle der Welt läuft viel schief. Das Maracanã wird teurer und später fertig als geplant. Und dann protestieren noch Indianer.

Rio de Janeiro - Brasilien hinke mit dem Stadienbau für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 hinterher und brauche einen „Tritt in den Hintern“, schimpfte Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke vor einem Jahr. Wenn jemand diese Bemerkung auf sich persönlich hätte beziehen müssen, dann wäre es wohl Ícaro Moreno gewesen. Dem obersten Baumeister von Rio de Janeiro untersteht die Renovierung des berühmtesten Fußballstadions der Welt, des Maracanã, und auch wenn er versichert, die Beton-Ellipse werde rechtzeitig fertig, ist er der Letzte, der jemals geleugnet hätte, dass der Zeitrahmen zwickt und zwackt.

 

Bloß über das Warum – und daher auch über die Frage, wer den Tritt in den Hintern verdient – ist er anderer Meinung als Valcke. „Die Fifa war schuld, dass es so knapp wurde, die hatte uns ihre Forderungen erst nach der Südafrika-WM präsentiert“, sagt er, ohne das ominöse Valcke-Wort aufzunehmen, über das die Brasilianer gar nicht amüsiert waren, „so ein Stadion kann man in so kurzer Zeit eigentlich gar nicht auf Vordermann bringen“.

Wenn es nur die WM 2014 wäre! Aber das Oval soll schon zum ersten Spiel um den Confederations-Cup fertig sein. Der Termin ist mehrmals verschoben worden, aber das geht jetzt nicht mehr. Am 27. April sollen die Arbeiten abgeschlossen sein, und schon für den 2. Juni ist das Länderspiel Brasilien gegen England angesetzt.

Schaffen sie das, die Brasilianer? Monate-, jahrelang haben sich das die Sportfreunde und -funktionäre rund um den Globus gefragt, und auch die Brasilianer selber schienen mitunter in Zweifel zu verfallen.

Aus dem Büro hinaus in den Rohbau

Bauhelm aufgesetzt, aus Morenos klimatisiertem Containerbüro hinaus in die Glut von Rio und hinauf auf die Schrägen der Betonmulde. Vor ein paar Wochen sah das hier noch wie ein Rohbau aus, Lastwagen und Betonmischer kurvten da unten herum, ein Teil der Tribünen hatte nicht

einmal Stufen. Aber jetzt legen die 6500 Mann, die Tag und Nacht arbeiten, schon letzte Hand an: Auf dem Spielfeld wird der Rasen ausgebreitet, mehr als die Hälfte des Gestühls ist montiert, und das Dachrund ist zu drei Vierteln fertig. Die Stahlseile, die wie gewaltige Schnürsenkel auf den Tribünen aufgereiht lagen, sind längst verzurrt, der Stahldruckring, der auf der Krone der Tribünenellipse aufliegt, nimmt wie die Felge eines Speichenrads die Kräfte der Seilkonstruktion auf, die das Stuttgarter Ingenieursbüro Schlaich, Bergermann und Partner für das Dach geplant hat.

Es ist normal und nichts speziell Brasilianisches, dass es vor sportlichen Mammutereignissen drunter und drüber geht. Je später, desto hektischer, und je hektischer, desto teurer – dieser Logik gehorcht die Baubranche überall und gerne. Aber bei den Vorbereitungen auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 ist das übliche Chaos übertroffen worden. Dass das Riesen-Event im Wesentlichen von Privatinvestoren gestemmt würde, wie es anfangs hieß, glaubt kaum noch ein Steuerzahler in Brasilien. 500 Tage vor dem Beginn der WM waren nur zwei der zwölf Spielstätten fertig. Einige werden nach der WM nutzlos herumstehen, weil es am Ort keine nennenswerten Fußballvereine gibt, deren Spiele sie füllen könnten. Und vor Ostern kam die vorerst letzte Horrornachricht, ausgerechnet aus Rio: Das Engenhão, das nach dem Maracanã zweite Stadion der Stadt in Olympiaformat, muss wegen Mängeln der Dachkonstruktion geschlossen werden, zunächst für zwei Monate. Dabei ist die dieses 155-Millionen-Euro-Bauwerk noch keine sechs Jahre alt.

Ein Ort des Stolzes und der Selbstbespiegelung

Sie werden es schaffen, das Maracanã rechtzeitig zu eröffnen – schließlich ist es eine Art Nationalheiligtum. Ein Ort des Stolzes, der Selbstbespiegelung. Wie keinem anderen Stadion kommen ihm mythische Qualitäten zu, die über die beim Fußball üblichen kollektiven Traumwelten von Sieg und Größe hinausgehen. Das Maracanã ist zu einer Parabel auf Brasiliens Schicksal überhöht worden, und das liegt daran, dass die Geburtsstunde des Mythos eine Niederlage war: das Endspiel 1950.

Europa lag halb in Schutt und Asche, als das aufstrebende Brasilien beschloss, für seine WM das größte Stadion der Welt zu bauen mit 180 000 Plätzen; die Liebe zum Superlativ passt bis heute gut zu Brasiliens mitunter übersteigertem Nationalismus. 11 000 Mann zogen es – mit 10 000 Tonnen Eisen und 500 000 Sack Zement – in Rekordzeit hoch. Jeder sollte, gemäß dem egalitären Geist des Fußballspielens, Zugang haben, egal ob arm oder reich. Der Standort, das Viertel Maracanã, war als sozial versöhnende Geste gemeint, weil dort das noble Süd- ins ärmliche Nordrio überging. Was sich insofern als geheuchelt erwies, als diese Grenze heute immer noch dort verläuft.

Das fatale Finale und der Unglückstorwart

Vor dem fatalen Finale waren die Brasilianer von Schützenfest zu Schützenfest gezogen: 4:0 gegen Mexiko, 7:1 gegen Schweden, 6:1 gegen Spanien. Umso totaler die schreckstarre Stille, als Uruguay zwölf Minuten vor Spielende das 2:1 gelang. „Nur drei Menschen haben das Maracanã mit einer einzigen Bewegung zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, Papst Johannes Paul II. und ich“, rühmte sich Torschütze Alcides Ghiggia.

Als das Maracanã 1963 neue Tore bekam, kaufte Moacir Barbosa, der Unglückstorwart, die alten Pfosten, heizte damit den Grill an und stellte sich vor, er brate Ghiggias Bein. Und das Wort des Theatermannes Nelson Rodrigues, die Niederlage sei „unser Hiroshima“, wird bis heute zitiert, ohne dass Anstoß genommen würde an der Geschmacklosigkeit des Vergleichs.

Aber zu Minderwertigkeitsgefühl und Scham gesellten sich auch Triumph, Vergnügen, Gemeinschaftlichkeit und jede Menge „jogo bonito“, die schöne, artistische Art des brasilianischen Fußballspielens. Erst diese Mischung macht den Mythos Maracanã aus – und jetzt? Bleibt dieses Stück Brasilien noch brasilianisch, wenn es den Vorschriften der Fifa gemäß modernisiert und normiert und kommerzialisiert wird?

Ein Klassenkampf ist ausgebrochen

„Wir verbinden Geschichte mit Modernität“, versichert Moreno, „und dabei wird das Maracanã komfortabler.“ Aber gerade das hat eine Protestbewegung auf den Plan gerufen, die nicht nur gegen die horrenden Kosten zu Felde zieht, sondern gegen das, was sie als Entcharakterisierung des Stadions anprangert. „Um das Maracanã ist sozusagen der Klassenkampf ausgebrochen“, sagt der in Rio lehrende deutsche Fußballsoziologe Martin Curi. „Der ursprünglich für alle offene Raum wird immer mehr zur Domäne der Mittelklasse.“

Vor zwölf Jahren kostete die billigste Eintrittskarte weniger als ein Euro. Vor der Schließung zahlte man im Engenhão, Rios zweitem Großstadion – das Maracanã ist seit 2010 zu – „mindestens 20 Euro, also fünf Euro mehr als die billigste Karte in München“, kritisiert Curi.

Beim Finale 1950 quetschten sich 200 000 Menschen in das Oval, heute gibt es keine Stehplätze mehr – es werden 79 378 Klappsitze montiert. Seit 2007, sagt Curis Kollege Christopher Gaffney, sind die Eintrittspreise um 72 Prozent gestiegen, während die Zahl der Besucher um 16 Prozent geschrumpft ist. Und vor 62 Jahren zählte das Maracanã 500 Ehrenplätze, nun wurden 110 Luxuslogen für jeweils 25 VIPs eingebaut. Also ein steter Trend zur Entproletarisierung einer traditionell proletarischen Sportart.

Hunderte von Millionen an Baukosten

Beeindruckend, wie unbekümmert Brasilien dafür Hunderte von Millionen verfeuert. Die drei Renovierungen des Maracanã seit 2000 summieren sich auf 1,5 Milliarden Reais zu heutigen Preisen. Also 580 Millionen Euro, wobei natürlich jetzt auch abgerissen wurde, was erst 2007 für 153 Millionen renoviert worden war. Und weil der Staat sein Stadion demnächst von einer Privatfirma führen lassen will, die 35 Jahre lang nur 2,7 Millionen Euro Jahrespacht zahlen soll, wird die Protestparole „Das Maracanã gehört uns“ noch oft voller Trotz und Zorn ausgerufen werden.

„Grundsätzlich sind für ein 60 000 Zuschauer fassendes Stadion 10 000 Parkplätze bereitzustellen“, dekretiert die Fifa. Für die Autos und für den schnellen Abfluss der Zuschauer wird um das Maracanã herum großflächig abgerissen: etwa ein erst 2007 renoviertes Schwimmbad und ein Leichtathletikstadion, beides soll woanders neu gebaut werden.

Das Indio-Museum sollte abgerissen werden

Verschwinden sollte zunächst auch die wunderliche Ruine des Palais, das Ludwig August von Sachsen-Coburg und Gotha im 19. Jahrhundert bewohnt hatte – mit seiner Frau Leopoldina, einer Tochter des brasilianischen Kaisers Pedro II. Die gewaltige neoklassizistische Liegenschaft mit ihrem Turm und den hohen Räumen beherbergte später den Staatlichen Indianerdienst. Als das Maracanã gebaut wurde, richtete Brasiliens berühmter Ethnologe Darcy Ribeiro ein Indianermuseum ein. Es zog in den Siebzigern um, dann rottete der Palast vor sich hin, bis er 2006 von 35 Indianern besetzt wurde.

In die schöne neue Fußballwelt des Maracanã schienen die Ruine und ihr Garten, in denen sich immer mehr Indianer eingerichtet hatten, gar nicht zu passen. Der Plan der Besetzer, ein Kulturzentrum einzurichten, wurde nicht einmal richtig diskutiert. Die Stadt und das Bundesland Rio hatten nur eines im Sinn: abreißen und Parkplätze bauen. Um den Fifa-Vorschriften Genüge zu tun, versuchten Rios Politiker den Schwarzen Peter weiterzureichen; die Fifa konterte kühl, sie habe nie den Abriss verlangt. Nun bleibt das Palais doch stehen, aber die Chance, seinen so oft benachteiligten Ureinwohnern einen attraktiven Raum zur Selbstdarstellung zu geben, lässt Brasilien verstreichen: Die Polizei komplimentierte die indianischen Besetzer kürzlich mit Pfefferspray und Schlagstöcken hinaus – statt eines Kulturzentrums soll ein Olympiamuseum einziehen. „Indianer leben doch im Wald, oder?“, rief Rios Sportminister André Lazaroni den Unterlegenen höhnisch hinterher.

Die Grundschule direkt am Stadion

„Ich verstehe nicht, warum man so viel streitet“, sagt Ícaro Moreno über ein anderes Abrissobjekt, „die kriegen doch einen modernen Neubau.“ Gemeint ist eine Grundschule, die, sicher kurios, an das Maracanã angebaut ist. Aline Mora, eine der Lehrerinnen, sagt, was Eltern und Pädagogen fürchten: dass der Neubau ewig auf sich warten lassen wird und dass die Schule, die im landesweiten Ranking an zehnter Stelle steht, auf andere Schulen aufgeteilt, also quasi aufgelöst wird.

Der Namensgeber der Grundschule ist Arthur Friedenreich, geboren 1892, Sohn eines Deutschen und einer schwarzen brasilianischen Wäscherin. Er war, heute fast vergessen, der erste farbige Fußballkönig Brasiliens – ein Star, der mit seinem außergewöhnlichen Können die rassistischen und sozialen Vorurteile überwand, die ihm entgegenschlugen. Seinen Namen vom Maracanã zu verbannen – das wäre nun wirklich der Sieg der weißen Mittelschicht im Klassenkampf.