Über TTIP wird als Ganzes entschieden, glaubt der Ökonom Gabriel Felbermayr. Spekulationen über Teilaspekte hält er für müßig. Er ist für den Handelsvertrag, macht aber klar: Es gibt auch Verlierer.

Stuttgart – - Das Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU erregt die Gemüter – im Oktober protestierten auf den Straßen der Hauptstadt 250.000 Menschen dagegen. Der Ökonom Gabriel Felbermayr, in seiner Zunft einer der profiliertesten Kenner des Themas, befürwortet TTIP, weil die EU damit aus seiner Sicht gegen ihren Bedeutungsverlust im Welthandel angeht. Er rät dazu, in den Verhandlungen nicht dogmatisch aufzutreten, sondern sie als Tauschgeschäft zu begreifen, als ein Geben und Nehmen – mit positivem Saldo.
Herr Professor Felbermayr, wieviel Geld würden Sie darauf wetten, dass es zu einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA kommt?
Ein Universitätsprofessor in Deutschland hat das Problem, dass er wenig Geld zum Wetten besitzt. Außerdem hoffe ich sehr, dass TTIP kein Glücksspiel ist. Wer Geld zum Wetten hat, dem würde ich sagen: Die Wahrscheinlichkeit spricht zu 51 Prozent dafür, dass TTIP zustande kommt und zu 49 Prozent dagegen.
In den USA wird 2016 ganz im Zeichen der Präsidentschaftswahlen stehen. Ist das gut oder schlecht für solch ein Abkommen?
Ich glaube nicht, dass TTIP im Wahlkampf ein großes Thema wird. Weder bei den Republikanern noch bei den Demokraten besteht da großes Interesse. Da ist das transpazifische Abkommen schon eher relevant.
In Europa müssen alle Parlamente aller 28 Mitgliedsländer zustimmen; das ist eine sehr hohe Hürde.
Es ist immer noch nicht endgültig geklärt, ob es sich wirklich um ein gemischtes Abkommen handelt, bei dem nicht nur der Europäische Rat, sondern auch die einzelnen Parlamente zustimmen müssen. Aber ich gehe davon aus, dass der Weg über die Parlamente gewählt wird. Dann stellt sich die Frage, was passiert, wenn das eine oder andere Land nicht zustimmt. Es ist übliche Praxis, dass ein Abkommen schon vor der Ratifizierung vorläufig in Kraft gesetzt wird. Es treten dann erst einmal nur die Teile in Kraft, die eindeutig in die Zuständigkeit der EU fallen. Danach ist dann Kreativität gefragt. Wenn ein einzelnes Land nur aus taktischen Gründen die Zustimmung verweigert, muss zur Not so lange abgestimmt werden, bis die Zustimmung da ist.
Warum ist der Widerstand ausgerechnet in Deutschland so groß?
Das liegt vor allem an der pauschalen, generellen Kritik, die über Jahre hinweg an Brüssel geübt wurde. Wer die EU-Kommission immer wieder für Missstände verantwortlich macht oder die Lösungen aus Brüssel kritisiert – siehe Griechenland-Krise –, der muss sich nicht wundern, wenn die Bevölkerung insgesamt das Vertrauen verliert. Aber die Stimmung hat sich mit dem Amtsantritt der neuen EU-Kommission mit Handelskommissarin Cecilia Malmström etwas verbessert.
Die TTIP-Befürworter hatten ursprünglich zu hohe Wachstumsraten in Aussicht gestellt. Gegenwärtig heißt es, dass sich das Wachstum um ganze 0,05 Prozent pro Jahr erhöht; lohnt das den Aufwand?
Ich ziehe in Zweifel, dass die Effekte wirklich so klein sind.
Und wie hoch schätzen Sie das Potenzial ein?
Wir haben mittlerweile 20 bis 25 Studien. Und die Ironie dabei ist: Fast alle kommen auf größere Effekte als die Kommission, die von einem Wohlfahrtsgewinn innerhalb von etwa zehn Jahren von 0,5 Prozent für Europa bis 2027 gesprochen hat – ein Volumen von 120 Milliarden Euro. Ich glaube, wir reden von langfristigen Effekten auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1,5 und 2,5 Prozent für Deutschland – also deutlich mehr als die 0,5 Prozent. Wir sollten das nicht kleinreden. Wir und die USA sind auf einem dramatisch absteigenden Ast, was unsere Bedeutung für die Weltwirtschaft betrifft. Unser Anteil am Kuchen wird immer kleiner.
Sie haben in einer Analyse für das Bundeswirtschaftministerium geschrieben, dass im Kraftfahrzeugbau die amerikanischen Exporte deutlich stärker zulegen würden als die deutschen. Warum befürwortet die Autoindustrie trotzdem TTIP vehement? Wollen unsere Autobauer künftig noch stärker aus den USA exportieren, was hiesige Arbeitsplätze bedrohen würde?
Die Autoindustrie produziert jeweils auf beiden Kontinenten. So profitieren zum Beispiel Daimler und General Motors von so einem Abkommen, unabhängig davon, ob nun die deutschen oder die amerikanischen Exporte zunehmen. Ob es zu einer Verlagerung aus Europa heraus in die USA kommt, hängt an vielen Stellschrauben, die nichts mit dem Abkommen zu tun haben. So investiert zum Beispiel die chemische Industrie nicht mehr in Deutschland, sondern in den USA, weil dort die Energiepreise günstiger sind als in Europa. Deshalb wird dann der europäische Markt von deutschen Unternehmen aus den USA bedient – Beispiel BASF. Und wenn wir nicht aufpassen, dann passiert das auch in anderen Branchen.
Braucht es ein Abkommen wie TTIP, um die Farbe der Blinker zwischen den USA und Europa zu vereinheitlichen und zu klären, ob Außenspiegel nun starr oder einklappbar sein sollen?
Natürlich nicht, da kann man branchenspezifische Abreden aller Art machen, die dann aber auch in Gesetze gegossen werden müssen. Statt das nun in vielen, vielen Einzelverträgen zu machen, wird das gebündelt. Die Interessen sind häufig unterschiedlich, was einen Ausgleich – also Tauschgeschäfte – ermöglicht.
Nach dem gegenwärtigen Stand der Verhandlungen werden die Europäer keinen Zugang zu Ausschreibungen auf der Ebene der US-Bundesstaaten erhalten, was eigentlich besonders für den Mittelstand attraktiv wäre. Die Amerikaner wollen TTIP auf die Bundesebene beschränken.
Die öffentliche Beschaffung ist in der Tat ein ganz heikles Thema. Da wird man bis zum Ende der Verhandlungen warten müssen, welche Zugeständnisse die Amerikaner machen. Aber Europa wird etwas im Gegenzug anbieten müssen.
Und wo liegt grundsätzlich für den Mittelstand der Nutzen von TTIP?
Viele kleine und mittlere Unternehmen sind schon in den USA. Aber TTIP kann als Beschleuniger wirken für dynamische Betriebe, die sich gerade auf den Weg dorthin machen. Andere Unternehmen werden allerdings plötzlich im Heimatmarkt Wettbewerb aus den USA bekommen, den sie gegenwärtig noch nicht haben. Wir werden im Mittelstand also eine Zweiteilung erleben.
Ein möglichst ungehinderter Handel, so heißt es, bringe Wohlfahrtsgewinne. Reicht es da nicht aus, möglichst viele Zölle abzuschaffen, anstatt den Verbraucherschutz in ein nichttarifäres Handelshemmnis umzudeuten?
Das Niveau der Zölle ist in vielen Bereichen schon sehr niedrig. Da ist nur sehr schwer zusätzlicher Handel zu generieren. Die nichttarifären Themen sind nicht alle so schwierig wie die Chlorhühnchen. Bei Maschinen, Autos und Arzneimitteln kann viel getan werden, das zu erheblichen Kosteneinsparungen auf beiden Seiten führt. Damit das Abkommen am Ende ein Erfolg wird, wird man Bereiche ausklammern, in denen die Regulierungen nicht kompatibel sind. So lange zum Beispiel die Amerikaner in der Chemie ihre Standards nicht ändern, wird es keine echte, gegenseitige Anerkennung geben können.
Das Beispiel VW hat deutlich gemacht, dass die Amerikaner bei den Stickoxid-Emissionen von Personenwagen doppelt so scharfe Grenzwerte haben wie wir. Was gibt es da gegenseitig anzuerkennen? Es kann doch nur eine Wahrheit geben.
Die Wähler haben regional unterschiedliche Präferenzen. Die Amerikaner haben Angst vor dem Rohmilchkäse, was wir nicht verstehen. Wir fürchten uns vor genetisch modifizierten Lebensmitteln; das können die Amerikaner nicht verstehen. Da gibt es nicht die eine Wahrheit. Deshalb muss das ausgeklammert werden. Aber es gibt dann doch wieder viele Bereiche, wo es objektiv zugeht. Wenn Autos gegen eine Wand gefahren werden und sich dann zeigt, was mit den Dummies passiert, dann sollte eine Verständigung auf gemeinsame Werte zum Beispiel für die erforderliche Steifigkeit einer Karosserie möglich sein.
Es gibt immer mehr bilaterale Abkommen und die USA rüsten zusammen mit der EU zu einer Art Wirtschafts-Nato auf. TTIP würde auch viele Verlierer produzieren. Verschärft das nicht global die Ungleichgewichte?
Die Welthandelsorganisation (WTO) hat Schwierigkeiten, die Regelwerke weiterzuentwickeln. Das führt dazu, dass nicht nur die EU und die USA über ein Handelsabkommen sprechen; alle Akteure führen solche Gespräche. Deshalb ist es nicht legitim zu sagen, TTIP für sich genommen hat diesen und jenen Effekt auf ein bestimmtes Land. Klar ist: Was die großen Akteure verhandeln, stellt vor allem für Afrika ein Problem dar, weil der Kontinent nicht involviert ist.
Hand aufs Herz: Wissen Sie, über welche Punkte schon Einigkeit erzielt wurde?
Ich komme immer wieder an Informationen. Aber das Spekulieren über den Verhandlungsstand in Einzelfragen ist müßig. Es ist nichts entschieden, bis alles entschieden ist. Bei den Agrarthemen ist zum Beispiel jetzt schon klar, dass sie erst in der allerletzten Runde politisch geklärt werden. Es wird eine ganze Liste von Themen geben, die so heikel sind, dass sie auf technischer Ebene nicht zu klären sind.
Das heißeste Thema in der öffentlichen Debatte sind private Schiedsgerichte, die es ausländischen Konzernen erlauben würden, abseits der regulären Gerichte Staaten zu verklagen. Ist die Aufregung gerechtfertigt?
Ich halte das Thema zumindest für ein stückweit überbewertet. Die Erfahrung mit diesem Instrument war in der Vergangenheit nicht so schlecht. Deutschland ist nie zu Schadenersatzzahlungen verpflichtet worden. Warum sollten wir das Instrument nicht weiterentwickeln? Hier hat sich der öffentliche Druck positiv auswirkt und wir haben jetzt neue Vorschläge auf dem Tisch – eine Besetzung mit Richtern, eine Berufungsinstanz –, die das System besser machen und ein erster Schritt auf dem Weg zu einem Internationalen Handelsgerichtshof sein sollen.
Gefällt das den Amerikanern?
Ob das mit den Amerikanern durchzusetzen ist, stelle ich stark in Frage. Es sieht jedenfalls nicht besonders vielversprechend aus. Die Amerikaner wollen nun einmal keine Souveränität an internationale Institutionen abgeben, was ja beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu sehen ist. Für manche Länder in der EU wie Rumänien und Bulgarien oder Beitrittskandidaten vom Westbalkan stellt sich die Situation im Übrigen noch mal anders dar. Die möchten möglichst starke Garantien bieten, damit sie die Investitionen bekommen, die sie für ihr Wachstum brauchen.
Kritiker befürchten, dass die Politik entmachtet wird durch den sogenannten „Rat zur regulatorischen Kooperation“. Jedes Gesetz, das wir machen, müsste sich daran messen lassen, ob es nicht gegen TTIP verstößt. Bekämen die USA damit ein Vetorecht gegen Entscheidungen bei uns und umgekehrt?
Davon kann keine Rede sein. Es geht um Transparenz über Regulierungsvorhaben auf beiden Seiten. Die Regulierungsräte werden keinen formalen Einfluss auf die Gesetzgebung bekommen. Das ist alleine schon deshalb komplett unvorstellbar, weil sich die Amerikaner dem nicht unterwerfen werden – siehe Den Haag. Es werden also Empfehlungen ausgesprochen, EU und USA informieren sich. Ein Regulierungsrat ist von zentraler Bedeutung. Wenn wir künftige technologische Entwicklungen so auf den Weg bringen, dass sie kein Handelshemmnis zwischen der EU und den USA darstellen, dann können wir einen globalen Standard definieren.
Die USA und die EU würden mit TTIP einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag schließen, und die Parlamente würden damit Einflussmöglichkeiten verlieren.
Ja, natürlich. Das ist bei jedem völkerrechtlichen Vertrag so. Man schließt gewisse Handlungsoptionen aus. Ich kann zum Beispiel bei einer öffentlichen Ausschreibung künftig keine amerikanischen Mitbieter mehr ausschließen. Im Gegenzug bekämen wir das Recht, in den USA mitzubieten, was wir gegenwärtig nicht haben. Das ist kein Unterwerfungsabkommen, sondern ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Wir geben gewisse Rechte aus der Hand und bekommen dafür gewisse Rechte in den USA. Und umgekehrt. Ökonomisch ist der Saldo positiv.