Obwohl es auf den ersten Blick still und verlassen wirkt, läuft das Kraftwerk Gaisburg auch nachts auf Hochtouren.

Stuttgart-Ost - Zwei wuchtige Schornsteine ragen am Ufer des Neckars auf. Still liegt der massige Bau in der Dunkelheit. Das Kraftwerk Gaisburg wirkt verlassen. Es scheint, als wären die Mitarbeiter vor Stunden gegangen. Tapfer hält der Pförtner am Tor die Stellung, versorgt Gäste auch zu später Stunde routinemäßig mit einem Besucherausweis. Die Schranke öffnet sich, eine leere Straße führt ins Innere des Heizkraftwerks. Weder Menschen noch Fahrzeuge sind zu sehen, nichts deutet darauf hin, dass hier noch gearbeitet wird.

 

Aber der Schein trügt, das Kraftwerk läuft auf Hochtouren. Denn die 25 000 privaten Haushalte, 1300 Firmen und 300 städtischen Gebäude von Stuttgart bis Esslingen, die von der EnBW mit ihrem Kraftwerkstrio Münster, Altbach und Gaisburg versorgt werden, wollen rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr die Heizung aufdrehen und warm duschen können.

Doch wer bei einem Kraftwerk an Arbeiter mit verschwitzten Gesichtern und rußverschmierten Händen denkt, die Kohlen schaufeln und im Feuer stochern, wird schnell eines Besseren belehrt.

Ein inmitten von kohlegeschwärzten Kesseln und staubigen Rohren beinahe steril wirkender gläserner Kasten tief im Inneren des 30er-Jahre-Baus dient den Mitarbeitern als Arbeitsplatz. Im Vergleich zur düsteren Atmosphäre im restlichen Kraftwerk ist es ein geradezu heimeliger Ort. Das Radio läuft, und eine gute Seele hat ein Weihnachtsbäumchen aufgestellt. Trotzdem kommt man nicht umhin, beim Anblick des Raumes an die Enterprise zu denken. Der sogenannte Leitstand erinnert doch sehr an das Cockpit eines Raumschiffes. Schaltkreise und fremde Gerätschaften hängen an den Wänden. Auf einer halbkreisförmigen Schreibtischfront stehen Computer. Kreisläufe sind auf den Bildschirmen zu sehen. Sie übertragen die Vorgänge aus den einzelnen Teilen des Kraftwerks.

In regelmäßigen Abständen hallt ein Klingeln durch den Raum. Während sich der Laie wundert, wie viele Menschen zu so später Stunde in einem Kraftwerk anrufen, weiß der Profi, dass es sich bei dem unangenehmen Geräusch um ein Alarmsignal handelt. Ob Emissionswerte, Temperatur oder der Druck im Kessel, wenn irgendein Parameter nicht mehr stimmt, schlägt das System Alarm. Doch die Mitarbeiter springen keinesfalls hektisch auf. Ein paar Klicks und das Problem ist behoben. Die komplette Anlage wird von hier per Computer gesteuert. Und dazu braucht es nicht mehr als fünf Menschen. „Früher waren wir hier 30 Mann“, erzählt Stefan Fritsch, der in dieser Nacht der Schichtleiter ist. Heute läuft alles automatisch. Trotzdem sind zwei der fünf Mitarbeiter ständig unterwegs. Sie werden Läufer genannt und kontrollieren, ob das, was auf den Bildschirmen im Leitstand zu sehen ist, auch den Tatsachen entspricht. Feste Aufgaben gibt es nicht. „Bei uns kann jeder alles“, erklärt Michael Lippert, der jetzt als Läufer an der Reihe ist.

Wer den gläsernen Kasten verlässt, betritt eine fremde Welt. Der Lärm der Maschinen ist ohrenbetäubend. Ein Labyrinth aus dunkelblauen Treppen lässt einen schnell die Orientierung verlieren. Vom Leitstand, dem Gehirn des Kraftwerks, geht es hinunter zum Herzen: dem Wirbelschichtkessel. Er ist der ganze Stolz des Heizkraftwerks Gaisburg. Durch die Zugabe von Kalk werden die bei der Verbrennung entstehenden Schadstoffe gebunden. So werden die Emissionswerte ohne spätere Rauchreinigung eingehalten. Bei fast 40 Grad wird der dicke Wintermantel zum Fluch. Die flachen Moonboots entpuppen sich dagegen als optimales Schuhwerk für diesen Anlass.

Wäre die Wahl etwa auf hochhackige Pumps gefallen, würden die Absätze längst im Gitter einer der unzähligen Treppen stecken. Lippert nimmt eine Probe des Kohle-Sand-Gemisches, das bei der Verbrennung übrig bleibt. „Das gibt uns eine Aussage darüber, wie die Verbrennung im Kessel ist, dann können wir entsprechend eingreifen“, erklärt er. Per Funkgerät spricht er mit den Kollegen im Leitstand. Vom Fuß der Maschine geht es gefühlte 1000 Stufen hinauf zur Spitze des Kessels. Dort befindet sich der Kohlezuteiler. Die Kohle wird mit einem Fließband vom Silo ins Innere des Kraftwerks transportiert und automatisch in den Kessel geschüttet. „Es ist wichtig, dass die Kohle immer fällt“, erklärt Lippert. Bei Regenwetter könne es leicht passieren, dass sie pappt und den Zuteiler verstopft. Doch heute ist alles in Ordnung.

Bis 5.30 Uhr werden Lippert und seine Kollegen arbeiten, dann löst sie die Frühschicht ab. Auf den Treppen werden pausenlos Läufer unterwegs sein, das Alarmsignal wird die Radiomusik übertönen, und die Mitarbeiter werden den Maschinen ständig neue Befehle geben. Trotz dieser Erkenntnis überkommt einen beim Passieren der Schranke das gleiche Gefühl wie bei der Ankunft: Still und verlassen liegt das Kraftwerk am Neckarufer, als wären die Mitarbeiter vor Stunden gegangen.