Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand. In einem Gastbeitrag beschreiben Mitarbeiter der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, unter welchen Bedingungen sie arbeiten.

Istanbul - Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand. Vor allem Presse- und Meinungsfreiheit sind in höchster Gefahr, Journalistinnen und Journalisten werden systematisch zum Schweigen gebracht. Zum „Writers-in-Prison-Day“ an diesem Dienstag veröffentlichen knapp 40 deutsche Tageszeitungen und Online-Medien, darunter auch die Stuttgarter Zeitung, einen Text, den die Redaktion der Tageszeitung „Cumhuriyet“ geschrieben hat. Sie protestieren so gegen die Verfolgung der Kolleginnen und Kollegen. „Cumhuriyet“ steht besonders unter Druck, zahlreiche Mitarbeiter aus Verlag und Redaktion wurden verhaftet, andere ins Exil getrieben:

 

Aus dem Strauß in seinen Händen zieht der Mann rote Nelken heraus und legt auf jedem Schreibtisch der Nachrichtenredaktion eine nieder. Inmitten des Durcheinanders fragen wir ihn, was los ist. „Ich bin ein alter Mitarbeiter der ,Cumhuriyet‘, für eure Moral habe ich Blumen mitgebracht“, sagt er. Er verteilt still die Nelken und verschwindet. Derweil geht es in der Zentrale der Tageszeitung ,Cumhuriyet‘ im Istanbuler Stadtteil ŞSisli wie in einem Bienenstock zu. Es ist der 2. November 2016, der dritte Tag, nachdem 13 Journalisten und Manager von uns festgenommen worden sind. Wir versuchen, ruhig und gelassen zu bleiben. Es gilt eine Zeitung herauszubringen – egal, wie viele Kollegen inhaftiert sind. Wir haben keine Alternative, als unserem Beruf nachzugehen. Aber wir alle sind traurig und besorgt und rufen uns ins Gedächtnis, wie wir an jenem Tag getitelt haben: „Wir ergeben uns nicht.“

Was ist passiert?

Alles begann am Morgen des 31. Oktober 2016 mit dem Anruf unseres Chefredakteur Murat Sabuncu. Morgens um sieben Uhr meldete er sich bei unserem Chef vom Dienst und sagte: „Mein Freund, sie nehmen mich mit.“ Seinem Anruf folgten bald weitere; unsere Telefone begannen, wie verrückt zu klingeln: Die ,Cumhuriyet‘-Journalisten Aydın Engin, Hikmet Çetinkaya und Hakan Kara, unser Ombudsmann Güray Öz, die Vorstandsmitglieder der Cumhuriyet-Stiftung Bülent Utku und Mustafa Kemal Güngör, unser ehemaliger Finanzverantwortlicher Bülent Yener und sein Nachfolger Günseli Özaltay, der Leiter unserer Buchbeilage Turhan Günay – sie alle wurden aus ihren Wohnungen geholt. Zudem wurde die Wohnung von Orhan Erinç, dem Vorsitzenden der Cumhuriyet-Stiftung, durchsucht. Zuletzt wurde am vergangenen Freitag unser Herausgeber Akın Atalay, der aus beruflichen Gründen in Deutschland war, bei seiner Landung festgenommen.

Eine 92 Jahre alte Zeitung

Schon in unseren ersten Gesprächen stellten wir fest, dass die Operation gegen die ,Cumhuriyet‘ niemanden wirklich überrascht hatte. Weil die Regierung jeden, der ihr widerspricht, zum Schweigen bringen will. Darunter auch unsere Zeitung. Doch den Gedanken, dass eine Zeitung wie die ,Cumhuriyet‘, bei deren Gründung vor 92 Jahren Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Türkei, als Namensgeber Pate gestanden hatte; eine Zeitung, die in der Vergangenheit nach jedem Putsch verfolgt wurde, weil sie „links“ ist; eine Zeitung, die für Demokratie, Laizismus, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Meinungsfreiheit stand – dass diese Zeitung derart unter Druck geraten würde, wollten wir nie aussprechen. Aber das politische Klima ist im Ausnahmezustand rauer geworden.

Der Putschversuch vom 15. Juli 2016

Jemandem im Ausland zu erklären, was am 15. Juli in der Türkei passiert ist, ist nicht ganz einfach. Kurz gesagt: Unserer Ansicht nach wollte die sich seit 2013 mit der AKP im Machtkampf befindende religiöse Organisation, die Fethullah-Gülen-Gemeinde, die Regierung mit einem Putsch stürzen. Dagegen stand das ganze Land auf und schützte seine gewählten Repräsentanten. So wurde der Putsch zerschlagen. Bald darauf wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Im Kampf gegen die Gülen-Organisation ergingen gegen Tausende Menschen Haftbefehle, und noch immer werden neue erlassen. Vorstandsmitglieder der Stiftung und Journalisten der ,Cumhuriyet‘ wurden beschuldigt, sie hätten im Auftrag der Gülen-Organisation und der PKK gehandelt. Dabei ist die ,Cumhuriyet‘ eine der wenigen Zeitungen, die stets auf die Gefahr hingewiesen haben, dass die Gülen-Organisation Polizei und Justiz mit dem Ziel unterwandert, die Kontrolle über die Republik an sich zu reißen und die Türkei in einen islamischen Staat zu verwandeln. Zudem ist die ,Cumhuriyet‘ eine der wenigen Zeitungen, die die Rechte der Kurden verteidigt, zugleich die PKK ständig kritisiert und jede Art von Terror ablehnt.

Beschuldigt, Journalisten zu sein

Von unseren 13 Freunden, die am 5. November vor Gericht gebracht wurden, wurden vier unter Auflagen freigelassen. Dass sie gleich nach ihrer Freilassung nachts um 4 Uhr in die Zeitung kamen und dort von ihren wartenden Kollegen empfangen wurden, zeigt, wie sehr wir sehr wir unserem Beruf verbunden sind. Aber in der Türkei bleibt keine Freude ohne Strafe. Denn unsere übrigen festgenommenen Freunde wurden von Freitagnacht bis Samstagmorgen im größten Gerichtspalast Europas, dem Çaglayan-Gerichtsgebäude, von einem Richter befragt. Am Ende wurden sie verhaftet und nach Silivri gebracht, das man als Europas größtes Gefängnis bezeichnet. Der Staatsanwalt beschuldigte sie mit nichts anderem, als Journalisten zu sein.

Nur eines fehlt uns

Wir machen unsere Arbeit mit dem Ziel, guten Journalismus zu bieten. Wir wollen nur eines: die Pressefreiheit. Um in Ruhe unserer Arbeit nachgehen zu können, müssen wir einfach nur Journalisten bleiben. Wir müssen für jene eine Stimme sein, die keine haben, wir müssen die Tatsachen berichten und aufschreiben. Unsere Arbeit ist schwer, der Druck ist groß, die Bedrohungen ernst. Aber nichts davon wird uns abschrecken. Die Nachricht unseres Chefredakteurs Murat Sabuncu, die er aus der Haft geschickt und damit unsere Augen mit Tränen gefüllt hat, ist der Grundsatz von jedem, der bei der ,Cumhuriyet‘ arbeitet: „Wir werden uns nur unserem Volk und unseren Lesern beugen.“