Manchmal schleicht sich eine Nebensache ins Bewusstsein. Zum Beispiel ein Sträßle am Rande von Degerloch. Eine Erkundungstour.

Stuttgart - Wann ich den Straßennamen, der tief romantische, aber fast ungegenständliche Fantasien in mir auslöste, wie es als Kind Städtenamen im Atlas getan hatten (Buchara, Samarkand und Taschkent, Timbuktu natürlich und Iskenderun, aber auch zum Beispiel Vaison-la-Romain oder Carcassonne), zum ersten Mal wahrnahm, weiß ich nicht mehr genau. Ich lebe erst seit acht Jahren in Stuttgart, und in den Stadtteil, in dem die Straße mit dem für mich so magischen Namen liegt, komme ich eher selten. Sicher weiß ich, dass ich das Straßenschild zum ersten Mal vom Beifahrersitz aus gesehen habe. Vielleicht war es nach einem Kinobesuch im SI-Centrum, vielleicht war die B 27 gerade zu, als wir in den Osten zurückfahren wollten , so dass der Fahrer oder die Fahrerin kurz entschlossen die Epplestraße nahm und dann in die sich lang hinziehende Reutlinger Straße abbog, die eigentlich eine einzige Schlangenlinie ist. Vielleicht war es Nacht, vielleicht regnete es auch, und vielleicht war ich nach dem Film noch nicht zu hundert Prozent wieder in der Wirklichkeit angekommen, als das Straßenschild schnell wie ein Traumbild vorbeiflog. Wusch! Hatte ich richtig gelesen?

 

Nebenhöhlenweg?

Erstaunlich jedenfalls, irgendwie geheimnisvoll. Man wendet den Gedanken, dass es eine Straße dieses Namens gibt, kurz hin und her und fragt sich, was wohl dahinterstecken könnte. Aber im nächsten Moment, wenn etwas anderes die vagabundierende Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, hat man es auch schon wieder vergessen.

„A bissle versteckt“

Über die Jahre bin ich nach meiner Initiation immer mal wieder durch die Reutlinger Straße gekommen, immer als Beifahrer und, meiner Erinnerung nach, immer in Richtung Osten, nie den umgekehrten Weg. Monate müssen zwischen diesen Fahrten gelegen haben. Zunächst wurde ich vom Straßenschild Nebelhöhlenweg, wie ich dann richtig las, noch jedes Mal genauso überrascht wie beim ersten Mal. Es tauchte plötzlich am Straßenrand auf, und ehe ich richtig hinsehen konnte, waren wir auch schon vorbei. Obwohl mich mein Weg en passant so selten dorthin führte, verwandelte sich die wiederholte Überraschung — „Ach ja!“ —, durch Kumulation, nehme ich an, irgendwann in eine solidere Form von Information, und ich wusste schon, wenn wir in die Reutlinger Straße einbogen, dass jetzt bald der Nebelhöhlenweg kommen würde.

Während der ganzen Zeit, in der der Nebelhöhlenweg allmählich deutlicher in mein Bewusstsein trat (um nicht zu sagen: sich aus einer Art Wahrnehmungsnebel löste), schwang auch, schon lange, nachdem ich mir über meinen Lesefehler beim ersten Anblick klar geworden war, im Namen des Weges das mir viel geläufigere Wort Nebenhöhlen weiter mit. Eigentlich, muss ich eingestehen, ist das noch heute so.

Der Nebenhöhlenweg ist für mich möglicherweise auch deshalb ein Nebenname des Nebelhöhlenwegs geblieben, weil irgendwann in der Zeit, als ich den Weg für mich entdeckte (wenn man denn bei einer so flüchtigen Bekanntschaft von einer Entdeckung sprechen kann), ein Nachbar, waschechter Schwabe, im Treppenhaus auf die Frage, wie’s gehe, antwortete, er sei „a bissle versteckt“. Mir als Reigschmecktem sagte das gar nichts, weshalb er mir erklärte, „versteckt“ sei eine alte schwäbische Form von „verstopft“, bedeute also so viel wie „erkältet“, „verschnupft“. Die Nebenhöhlen sind halt zu.

Die Entdeckungstour startet am Fernsehturm

Wenn ich mal wieder am Nebelhöhlenweg vorbeirauschte, dachte ich deshalb „a bissle versteckt“, und wenn meine Nebenhöhlen verstopft waren, fiel mir garantiert mehrmals im Verlauf meiner Erkältung der immer noch nicht abgeschrittene Weg am Westrand von Stuttgart-Degerloch ein.

Vor fast genau drei Jahren — endlich —, machte ich mich mit einer reizenden Begleiterin auf den Weg, um den Nebelhöhlenweg ein wenig intimer kennenzulernen, als es der Blick aus einem fahrenden Auto in eine Querstraße erlaubt. Und so wie man bei besonderen Vergnügen nicht darauf erpicht ist, sie kurz und schmerzlos hinter sich zu bringen, sondern eine Verzögerung, ein Ritardando, einlegt, um den Genuss zu steigern, fuhren wir nicht umstandslos bis zu dem Straßenschild, das das ganze Gedankenspiel um den Nebelhöhlenweg ausgelöst hatte, sondern näherten uns ihm langsam an, zu Fuß.

Wir begannen unseren Pilgerweg an der Stadtbahn-Station Ruhbank am Fernsehturm. Im Stadion auf der Waldau spielten (damals noch in der Regionalliga Süd) gerade die Kickers gegen Hessen Kassel. Die Kickers standen damals kurz vor dem Aufstieg in die dritte Liga, und es waren offenbar eine Menge Leute im Stadion. Sicht aufs Spielfeld hatten wir nicht, aber als wir schon fast an der Arena vorbei waren, brandete plötzlich ziemlich stimmgewaltig Torjubel auf. Die Kickers gewannen an diesem Tag 2:1 durch ein Tor in der Nachspielzeit.

Ganz Stuttgart ist eine Regenhöhle

Die Daten zum Spiel habe ich mir erst am nächsten Tag herausgesucht. Daraus ließ sich (und lässt sich noch heute) schließen, dass wir — falls das Spiel pünktlich um 14 Uhr angepfiffen wurde — exakt um 14.36 Uhr das Stadion passierten, denn in der 36. Minute schoss Marchese das 1:0 für die Kickers. Wir wunderten uns darüber, dass, während das Spiel lief, so viele Leute rund um das Stadion unterwegs waren — obwohl es regnete. Leichtsinnigerweise waren wir ohne Schirm aus dem Haus gegangen, zum Schutz gegen den Regen hatten wir nur Kappen. Es war Mitte April, warm war der Regen nicht, und je länger wir gingen, desto stärker regnete es.

Auf dem Weg in Richtung Nebelhöhlenweg mussten wir ein Waldstück durchqueren, darin das Haus des Waldes, das wir aber links liegen ließen; das heißt, eigentlich lag es rechter Hand. Es regnete und regnete, der Wolkenhimmel hing tief, ganz Stuttgart eine Regenhöhle. Auf dem Weg durch den Wald verfranzten wir uns ein wenig, kamen auf der anderen Seite nicht an der vorgesehenen Stelle heraus und blieben dann, um uns weitere Umwege zu ersparen, auf der kurvenreichen Reutlinger Straße, die ich auf diese Weise auch einmal in Richtung stadtauswärts kennenlernte. Und dann waren wir endlich da.

Die Gegend dort liegt auf einem Hügelrücken, der sich nach Süden hin zum Tränkebach senkt, und der Nebelhöhlenweg folgt dieser Geländeform und führt, geteilt von der Reutlinger Straße, sanft abwärts. Das obere Drittel, teils Fußweg, teils Straße, mündet in den Waldenbucher Platz, aber zu sehen gab es da eigentlich nichts.

Stadtrandidylle im Regen

Mich zog das Stück auf der anderen Seite der Reutlinger Straße mehr an, das dort begann, wo ich aus dem Auto heraus immer das Straßenschild gesehen hatte. Der Nebelhöhlenweg ist hier ein schmaler asphaltierter Fußweg zwischen niedrigen Zäunen rechts und links. Nicht sehr steil geht es hügelabwärts, und leicht versetzt führt der Weg jenseits der querenden Unterhäuser Straße noch ein Stück weiter, ehe er in die Honauer Straße mündet, die an dieser Stelle eine scharfe Kurve beschreibt, eine Art Stadtrandidylle im Regen.

Ich erinnere mich nicht daran, dort einen einzigen Menschen gesehen zu haben. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass die seither verstrichene Zeit in meinem Gedächtnis alle, die dort im Regen herumliefen, vermutlich mit Schirm, ausgelöscht hat.

Aus den Häusern am Nebelhöhlenweg, zweistöckig, wenn ich mich recht erinnere, kam auch kein Lebenszeichen. Die Rasenstücke, die die Wohnhäuser umgaben, waren teils vermoost, aber kurz wie mit der Nagelschere geschnitten. Ich muss ein bisschen in meinem Gedächtnis graben, um solche Einzelheiten heraufzuholen. Für die Korrektheit meiner Angaben würde ich nicht unbedingt meine Hand ins Feuer legen. Ich war nie wieder dort, und der ganze Ausflug kommt mir heute wie eine schräge Regensehnsuchtsträumerei vor.

Die Nüchternheit der Wirklichkeit

So faszinierend wie sein Name war der Nebelhöhlenweg nicht, natürlich nicht (Namen wirken ja überhaupt nur magisch, wenn man das, was sie bezeichnen, nicht kennt). Aber statt enttäuscht zu sein, war ich, als wir den Weg abschritten, ich mich umsah, mir den Regen aus dem Gesicht wischte und alles auf mich einwirken ließ, auf eine zarte Weise bezaubert von der Nüchternheit der Wirklichkeit, die ich im Nebelhöhlenweg angetroffen hatte.

Als ich mich gerade, ein wenig selbstzufrieden — ich gebe es zu — auf diese Lesart eingestimmt hatte, fiel mein Blick auf eine Magnolie in voller Blüte. Nun habe ich sowieso ein Faible für die Schönheit von Bäumen, die Elefanten unter den Pflanzen, die zugleich filigrane Lichtgestalten sind. Und wenn sie dann noch, wie die Magnolie auf dem Eckgrundstück an diesem Sonntagnachmittag, in ihrer Prachtentfaltung dem Regen trotzen . . . Aber was mich richtig rührte, war noch etwas anderes: Rund um den Baum, der seine Äste und Zweige nach allen Richtungen ausbreitete, lagen Blütenblätter, weiß und zartrosa, ausgestreut im nassen Gras. Und jedes einzelne sah aus, als wäre es aus feinstem Porzellan.

Nass bis auf die Haut traten wir den Rückweg an. Und zwei Tage später fühlten wir uns „a bissle versteckt“.