Auf dem Gelände der Bezirksärztekammer soll im Februar ein Denkmal für die Opfer der NS-Medizin enthüllt werden. Vertreter der Ärzteschaft sehen darin das Zeichen einer Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Medizingeschichte.

Degerloch - Degerloch - Noch ist sie in Papier eingepackt. Von Februar an soll die Stele aus Glas auf dem Gelände der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg an der Jahnstraße der Öffentlichkeit zeigen, dass heutige Mediziner mit Schrecken auf das Wirken ihrer Vorgänger in der Zeit des Nationalsozialismus zurückblicken.

 

Ein Text ist in dem Glas eingraviert. Er erinnert allgemein an die Opfer des Nationalsozialismus und die Mediziner, denen in der NS-Zeit Unrecht geschah. Im Folgenden wird, wie es weiter heißt, die Verantwortung der Ärzte angemahnt, nie wieder einer verbrecherischen und menschenverachtenden Medizin Raum zu geben.

Ärzte wurden Mörder

Die Liste der Opfer der NS-Medizin ist lang: Hunderttausende Opfer des Euthanasie genannten Krankenmords, Hunderttausende Zwangssterilisierte, von denen Tausende ihr Leben ließen. Allein auf Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb wurden 1940 mehr als 10 000 Behinderte und psychisch Kranke systematisch umgebracht (siehe „Ermordet in Grafeneck“). Zu nennen ist auch die Rolle deutscher Ärzte in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Sie entschieden, wer noch arbeitsfähig war oder in die Gaskammern geschickt wurde. Die KZ-Ärzte vollzogen auch Experimente an Häftlingen. Zahlreiche Ärzte handelten ihrem hypokratischen Eid zuwider. Er verpflichtet sie, Leben zu heilen und zu retten.

Der Text auf der Stele erinnert zunächst an die Opfer unter den Ärzten, also an die vom Regime verfolgten Mediziner. Dann geht er auf die Verbrechen der Ärzte in der NS-Zeit ein. Von der Bezirksärztekammer gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine Stellungnahme zu dem Denkmal. Der Hemminger Internist Robin Thomas Maitra von der Arbeitsgruppe „Umgang der Ärztekammer mit der NS-Vergangenheit“ zeichnet für den Gedenktext verantwortlich. Dass zunächst an die Opfer unter den Medizinern erinnert wird und dann an die Opfer der NS-Medizin, sei der Kürze des Textes geschuldet, sagt er.

Späte Auseinandersetzung

Die Arbeitsgruppe bei der Ärztekammer, die sich die Vergangenheitsbewältigung zum Ziel setzt, existiert seit zehn Jahren. Für Robin Thomas Maitra ist die Gründung dieser Gruppe Signal einer späten, aber beherzten Auseinandersetzung der Mediziner mit dem Kapitel der NS-Medizin. „Bei uns Ärzten war es nicht anders als im Rest der Gesellschaft. Die Vergangenheitsbewältigung setzte erst mit einigem zeitlichen Abstand ein “, sagt er.

Allerdings zeigten sich die Berufsverbände auch aus anderen Gründen lange widerwillig. In der Nachkriegszeit gab es in den kassenärztlichen Vereinigungen eine personelle Kontinuität zur NS-Zeit. Nur wenige Mediziner mussten sich etwa für ihre Beteiligung an der sogenannten Euthanasie verantworten. „Es gab direkt nach dem Krieg ein paar Prozesse gegen Ärzte. Dann passierte lange nichts“, sagt Robin Thomas Maitra. Anders ausgedrückt hatten die kassenärztlichen Vereinigungen kein Interesse an der Aufklärung, da diese für einige Mitglieder Unangenehmes zu Tage gefördert hätte.

Zeichen des Gedenkens

Erst in den 80er-Jahren setzte mit dem Generationswechsel ein Umdenken in den Ärztekammern ein. Robin Thomas Maitra gehört zu den Medizinern, die sich bei der Ärztekammer nun für eine Aufarbeitung der Geschichte und auch für sichtbare Zeichen der Auseinandersetzung – wie die Stele an der Jahnstraße – einsetzen.

Für ihn sind die Verbrechen der Ärzte im Dritten Reich kein abgeschlossenes Kapitel Geschichte. „Heute gibt es so viele Themen wie Sterbehilfe oder Präimplantationsdiagnostik, bei denen sich für uns heutige Mediziner der Blick zurück lohnt“, sagt der Arzt. Darauf will die Inschrift auf der Gedenkstele hinweisen.

Hintergrund zur Euthanasie:

Der Begriff aus dem Griechischen bedeutet „schöner Tod“. Die Nationalsozialisten benutzten ihn verharmlosend für ihr Vernichtungsprogramm gegen kranke und behinderte Menschen. Am Anfang des Programms stand das Gesuch eines Elternpaars an die Führerkanzlei 1939. Es wollte sein behindertes Kind töten lassen. Adolf Hitler ordnete darauf an, in ähnlichen Fällen genauso zu verfahren. Die „Euthanasie“ wurde von Kindern rasch auf Erwachsene ausgedehnt.

Mit der Vernichtung von Behinderten und Kranken wollte das NS-Regime als negativ bewertete Erbanlagen eliminieren. Zudem galten arbeitsunfähige Volksgenossen als „unnütze Esser“. Nach Kriegsbeginn ging es darum, Betten in Heil- und Pflegeanstalten für verwundete Soldaten frei zu bekommen.

Missbildungen bei Kindern wurden von 1939 an im ganzen Reich erfasst. Bis zu 15 000 wurden in sogenannten „Kinderfachabteilungen“ getötet. Von Kriegsbeginn an wurden bis 1941 ungefähr 70 000 Menschen in Gaskammern ermordet. Der Massenmord mitten in Deutschland erregte Unruhe in der Bevölkerung. Die Vergasungen wurden deshalb eingestellt. In Heil- und Pflegeanstalten ging die sogenannte wilde Euthanasie durch Hungerkost und Medikamentenüberdosierungen indessen weiter. Sie wurde auf Altersheime, Krankenhäuser, Heime für Blinde, Taube, Trinker oder Tuberkulosekranke und sogar auf Lazarette ausgeweitet. Die Opferzahlen dieser zweiten Phase des Massenmords lassen sich schwer schätzen. Insgesamt dürften die Opfer der Erwachseneneuthanasie bei mehreren Hunderttausend gelegen haben. Tausende starben zudem als Folge von Zwangssterilisierungen.