Fünf Menschen hat das Geiseldrama am Mittwochmorgen in Karlsruhe das Leben gekostet – auch bei den Polizisten und Anwohnern hat die Bluttat Spuren hinterlassen.

Karlsruhe - Die Stimme bricht immer wieder. Hildegard Gerecke sitzt im Keller des Polizeipräsidiums Karlsruhe. Es gilt, Worte zu finden für diesen Vormittag, von dem alle sagen, dass er nicht zu fassen ist. Neben ihr die Spitzen der örtlichen Behörden. In aller Eile hat man die Kantine notdürftig in ein kleines Medienzentrum umgebaut. Es ist 16.01 Uhr, als die Geschehnisse des Tages, die zuvor ein brüchiges Mosaik gebildet haben, ein Bild ergeben sollen. Vor der Polizeipräsidentin steht ein kleiner Wald aus Mikrofonen, alle warten auf Ordnung in dem Chaos aus Gerüchten und Spekulationen. „Wir stehen alle noch unter dem Eindruck dieses schrecklichen Geschehens“, sagt sie. Sie spricht von einer schwierigen, hochkomplexen Einsatzlage, sie dankt den Einsatzkräften, die trotz der erheblichen Eigengefährdung alles getan hätten, die Geiseln zu retten.

 

Fünf Menschen sind an diesem Mittwochvormittag bei der Zwangsräumung einer Wohnung in Karlsruhe ums Leben gekommen. Vier Personen hatte der Täter als Geisel genommen, einen Gerichtsvollzieher, einen Mann vom Schlüsseldienst, einen Sozialarbeiter und den neuen Eigentümer. Dazu hielt sich die Lebensgefährtin des Todesschützen in der Wohnung auf.

„Nach jetziger Sachlage war das so geplant.“

Roland Lay ist Leiter der Polizeidirektion Karlsruhe, dieser Tag hat Spuren hinterlassen, auch bei ihm. Die Opfer seien regelrecht hingerichtet worden, sagt er: „Nach jetziger Sachlage war das so geplant.“ Keine Kurzschlussreaktion also, nicht aus dem Affekt heraus, sondern kaltblütig inszeniert. Den Sozialarbeiter lässt der 53-jährige Täter laufen, auf seine Aussagen berufen sich die Ermittler bei der Rekonstruktion des Verbrechens.

Es ist 8 Uhr an diesem Mittwoch, als drei Männer – der Gerichtsvollzieher, der Schlosser und der Sozialarbeiter – im Kanalweg 115 an der Tür im fünften Stock klingeln. Die Stadt Karlsruhe schickt zu Zwangsräumungen Sozialarbeiter, um den Betroffenen zu helfen und ihnen bei der Suche nach einer Zuflucht zu helfen. Als niemand öffnet, macht sich der Schlüsseldienst an die Arbeit. In diesem Moment öffnet der Täter und bittet die drei Männer ins Wohnzimmer. Sie sollen auf der Couch Platz zu nehmen, dann geht er in ein Nebenzimmer. Als er zurückkommt, hat er eine Pistole in der Hand. Als der Gerichtsvollzieher, ein 47-jähriger Familienvater, sich nicht setzen will, schießt er ihm zweimal in den Oberschenkel.

Danach zwingt der Schütze den Schlosser, die übrigen Geiseln mit bereitgelegten Kabelbindern zu fesseln. Nachdem er dies getan hat und der Täter ihn selbst fesseln will, versucht er, dem Mann die Waffe abzunehmen – erfolglos. Der Täter feuert vier bis fünf Schüsse in Kopf und Brust ab. Einige Minuten später klingelt der neue Besitzer der Wohnung, auch er wird zur Geisel.

Gegen 12 Uhr fährt der erste Leichenwagen vor

Nach etwa 45 Minuten, es ist bald neun Uhr, sagt der Täter zu dem Sozialarbeiter: „Schau mal, wie ich ausgestattet bin.“ Er zeigt auf eine Weste mit einer Übungshandgranate, Pistolen und ein Gewehr mit langem Magazin, dann lässt er ihn aus ungeklärten Gründen laufen. Noch im Haus hört er fünf Schüsse. Um 8.55 Uhr geht sein Notruf bei der Polizei ein. Spezialkräfte werden angefordert. Polizeipsychologen kommen hinzu. Alle Versuche, mit dem Geiselnehmer in Kontakt zu treten, schlagen fehl. Es gibt keine Kommunikation, es gibt keine Forderungen.

Der Tatort ist längst weiträumig abgesperrt. Polizeihubschrauber kreisen über dem Areal. Die Stimme des jungen Mannes auf der Straße schwankt zwischen Trauer und Entsetzen: „Können Sie bestätigen, dass bei den Toten der Schlosser vom Schlüsseldienst war?“ Er hofft noch, bedrängt die Polizisten. Wenig später hat der junge Mann Gewissheit. Er hat seinen Kollegen, seinen „Kumpel“ verloren. Einen 33-jährigen Familienvater, die Frau ist schwanger.

Als gegen 11.40 Uhr Brandgeruch aus der Wohnung kommt, entschließt sich die Polizei zum Einsatz. Um 11.48 Uhr wird die Wohnungstür aufgesprengt. Die Beamten finden fünf Leichen, der Teppich brennt. Der arbeitslose Täter hat sich selbst mit der Schrotflinte gerichtet. Zuvor hat er seine Geiseln hingerichtet, ebenso seine Lebensgefährtin. „Für das Sondereinsatzkommando gab es nichts zu verhindern und nichts zu retten“, sagt Staatsanwalt Gunter Spitz.

Gegen 12 Uhr fährt der erste Leichenwagen vor. Polizeisprecher Fritz Bachholz gibt Auskunft über die Zahl der Toten. Karlsruhes Oberbürgermeister Heinz Fenrich trifft ebenfalls am Tatort ein. „Ich bin entsetzt darüber, dass so etwas in Karlsruhe passieren kann, mein Mitgefühl gilt den betroffenen Familien“, sagt Fenrich.

Kurz nach 14 Uhr ist trügerische Ruhe eingekehrt

Wie konnte es so weit kommen? Der Täter habe wohl Existenzangst gehabt, heißt es bei der Polizei. Die arbeitslose Eigentümerin und Lebensgefährtin des Mannes war mit den Zahlungen an die Hausgemeinschaft im Rückstand. Am 25. April wurde die Wohnung zwangsversteigert, der neue Besitzer beantragte eine Zwangsräumung. Immer wieder kommt es bei solchen Zwangsräumen zu Komplikationen, weswegen Gerichtsvollzieher im Zweifel um Polizeihilfe bitten können. Doch hier wurde im Vorfeld das Gefahrenpotenzial als gering eingeschätzt, heißt es bei der Polizei.

Anna K. steht vor dem Wohnsilo im Kanalweg neben dem Tatort. Es ist mittlerweile kurz nach 14 Uhr. Trügerische Ruhe ist eingekehrt in der Paul-Revere-Siedlung, einer Hinterlassenschaft der US-Armee. Fast idyllisch mutet die Szenerie hier unweit des Tatortes an. Viele Bäume auf den Grünflächen spenden zwischen den Wohnsilos Schatten an diesem schwül-heißen Tag. Als die Amerikaner 1996 abzogen, entstanden hier zahlreiche Wohnungen, ein neuer Stadtteil. Eine beliebte Wohngegend.

Nur zwei, drei Meter neben der Hausfrau und Mutter verläuft die Demarkationslinie. Mit rot-weißen Bändern ist der Tatort abgeriegelt, schwer bewaffnete Polizisten patrouillieren. In der Wohnung laufen die Ermittlungen, Spurensuche, Leichenbeschau. Obduktionen sollen weiteren Aufschluss über die Tat geben. Anna K. ist gerade auf dem Weg, den Sohn aus der Schule abzuholen. „Ich bin völlig durch den Wind“, sagt sie. „Das war wie im Film.“

Keine Unterlagen deuten auf legalen Waffenbesitz hin

Anna K. sitzt an diesem Mittwochmorgen gegen neun Uhr mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. Sie hört einen Schrei von einem Mann, dann einen Knall. Sie denkt sich nichts dabei. Hier knallt es regelmäßig, meist sind es Silvesterböller. Dann kommt die Polizei, kommen Krankenwagen, Hubschrauber. Ihr Handy klingelt. „Geh zurück in deine Wohnung“, stammelt eine Freundin ins Telefon. Die Nachricht von einer Geiselnahme ist in der Welt, tröpfchenweise sickern Informationen durch. Von zwei Toten ist die Rede.

Die Polizei riegelt den Bereich ab, das betroffene Haus wird evakuiert. Im Gebüsch und auf dem Verschlag für die Mülltonnen liegen schwer bewaffnete Polizisten. Anna K. eilt in die Wohnung, die Bewohner werden aufgefordert, sich von den Fenstern fernzuhalten und in den hinteren Teil der Wohnung zu gehen.

In ersten Gerüchten ist davon die Rede, dass es sich bei dem Täter um einen Jäger handelt. Doch dies bestätigt sich nicht. Nach Angaben der Polizei sind in den Registern keine Unterlagen zu finden, die auf legalen Waffenbesitz hindeuten. 2003 wurde der Täter, der laut Polizei auch einen Wohnsitz im Elsass haben soll, wegen Ladendiebstahls angezeigt, dabei soll ein Messer im Spiel gewesen sein. Andere Waffendelikte sind nicht aktenkundig.