Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Wie wirkt es sich aus, dass es die verbindliche Grundschulempfehlung nicht mehr gibt? Ringwald In der eben angesprochenen Lateinklasse hat die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund. Das ist erstaunlich, da dieses Angebot bisher nur das typische Bildungsbürgertum wahrgenommen hat.
Damm In meiner fünften Klasse mussten nach einem halben Jahr vier Kinder auf Real- und Gesamtschulen geschickt werden, weil sie dem Unterricht im Gymnasium schlichtweg nicht folgen konnten.
Ist es – trotz solcher Einzelfälle – begrüßenswert, dass Grundschullehrer Kindern nicht mehr frühzeitig die Chance auf eine akademische Laufbahn nehmen können?
Ringwald Und ob! Die Grundschullehrerin meines jüngsten Sohnes hat zu mir einst gesagt: „Sie können froh sein, wenn Ihr Junge die Hauptschule schafft.“ Heute studiert er Medizin. Die Eltern müssen entscheiden, ob ihr Kind für ein Gymnasium geeignet ist. Leider ist mein Eindruck, dass es oft zu Fehleinschätzungen kommt. Ich berate Eltern, die wissen wollen, ob ihr Kind fürs Gymnasium geeignet ist. Bei meinen Tests kommt heraus, dass das auf die Allerwenigsten zutrifft. Man geht davon aus, dass ein Schüler für das Gymnasium einen Intelligenzquotienten von 110 benötigt. Viele der von mir Getesteten kommen auf einen IQ um die 80. Diese Kinder landen dann aber teilweise dennoch auf dem Gymnasium – und überfordern uns Lehrer.
Von Pädagogen wird heutzutage erwartet, dass sie individuell auf jeden Schüler eingehen. Ist das realistisch?
Damm Es gibt zurzeit Fortbildungen über binnendifferenziertes Lernen: Der Lehrer soll drei verschiedene Aufgabentypen entwickeln, damit möglichst jeder Schüler seinen Fähigkeiten entsprechend gefordert wird. Wenn Sie bedenken, dass ich bis zu zwei Stunden brauche, um eine gute Oberstufenunterrichtsstunde mit tollen Arbeitsblättern zu erstellen, dann frage ich Sie, wie ich die geforderte Differenzierung im Schulalltag bewerkstelligen soll.
Ihr eigenes Abitur liegt genau ein Jahrzehnt zurück. War das Leistungsniveau damals höher?
Damm Ich habe mir kürzlich meine Oberstufenklausuren in Französisch angeschaut und dabei festgestellt, dass die Aufgaben anspruchsvoller waren als jene, die ich heute meinen Schülern zumuten kann. Ich glaube, das Kernproblem ist, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr gewöhnt sind, selbstständig zu lernen.
Woran liegt das?
Damm Vielleicht begleiten Eltern heute ihre Kinder zu sehr. Sie wollen auch nie böse zu ihnen sein. Eltern müssen sich aber auch mal gegen die Kinder durchsetzen, auch mal nein sagen.
Ringwald Wir Lehrer verhätscheln die Schüler ebenfalls zu sehr. Wenn sie zu spät in den Unterricht kommen oder ein Referat nicht zum vereinbarten Termin fertig bekommen, neigen wir dazu, jede Ausrede zu akzeptieren. Ich habe diese Haltung mittlerweile abgelegt.
Nimmt die Disziplinlosigkeit zu?
Damm Einerseits ja: in der Unterstufe geht es oft sehr laut zu, und ich muss viel für eine gute Klassengemeinschaft tun, da alle noch sehr ichbezogen sind. Andererseits sind mir meine Oberstufenschüler dieses Jahr zu brav. Die trauen sich ja nichts mehr. Bei meinem Abiball haben wir Schüler unsere Lehrer beispielsweise gefragt, ob wir sie nun duzen dürften. Etwas in dieser sympathisch-frechen Art erlebe ich als Lehrerin nicht.
Stattdessen ist Komasaufen angesagt.
Ringwald Ich habe so ein Besäufnis mal mit Zehntklässlern auf einer Studienfahrt erleben müssen. Daraufhin durchsuchte ich das Gepäck der Schüler und fand mit Wodka gefüllte Wasserflaschen. Die Folge war, dass mir Eltern vorgeworfen haben, ich hätte damit die Intimsphäre ihrer Kinder verletzt.
Hat sich die Anspruchshaltung der Eltern verändert?
Ringwald Es gibt Eltern, die mit ihren Kindern kaum noch reden. Aber wenn es Probleme in der Schule gibt, solidarisieren sie sich mit ihnen gegen die Lehrer.