Es war das größte Spektakel des Mittelalters. Zum Konstanzer Konzil vor 600 Jahren kamen 70 000 Besucher, der Ketzer Jan Hus wurde verbannt und eine neuer Papst gewählt.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Konstanz - Der Hafen, wie an einem Formel-Eins-Wochenende in Monaco, gespickt voll mit den Booten der Hautevolee. Wer keinen Platz bekam, machte am wilden Schilfufer fest. In der Stadt ein Gedränge wie auf der Münchner Wiesn. Keine Stelle unter einer Treppe, kein Stall, kein Fass blieb unbewohnt. Einheimische vermieteten oder verkauften ihre Behausungen und siedelten aufs Land. Wie zur Hannover Messe zog es Huren von überall her dahin, wo das Leben pulsierte. „Wir ritten von einem Hus zum anderen, die söllich Frowen enthielten“, schreibt Ulrich Richental, „und funden allso gemeiner Frowen by 700, etlichen in Ställen und Winfassen, die an der Gassen lagen.“

 

Der weltläufige Patriziersohn war von 1414 bis 1418 eine Art Boulevardjournalist, Society-Reporter und politischer Beobachter des Konstanzer Konzils. Er hinterließ tiefe Einblicke in den größten Kongress des Mittelalters. Zu den 6000 Einwohnern gesellten sich 72 000 Gäste: Für fast fünf Jahre verwandelte sich Konstanz zur Hauptstadt des Römischen Reiches und schließlich zur Bühne der einzigen Papstwahl auf deutschem Boden.

Sehen wir uns also einmal um im Konstanz Anfang des 15. Jahrhunderts. Begeben wir uns auf eine Reise in eine Welt, die noch keinen Kopernikus, Raffael oder Luther kennt. Eine Zeit, als die Indianer noch ihre Ruhe vor den Europäern haben. Die Kirche andere Dinge umtreibt als die Hexenjagd. Und das Abendland gespalten ist: Gleich drei Päpste erheben Anspruch auf den Stuhl Petri. Am Ende sitzt keiner von ihnen mehr drauf.

Der römische-deutsche König Sigismund beruft das Konzil ein, um die Kirche zu einen. Konstanz ist freie Reichsstadt, Bischofssitz, Verkehrsknoten. Hier kreuzen sich Fernstraßen, viele schaukeln über den Rhein und den Bodensee ein. Sigismund dürfte auch keine Lust verspürt haben, das Ganze in einer oberitalienischen Stadt abzuhalten, wo immer irgendwelche Kardinäle mit irgendwelchen Patrizierfamilien verschwippt oder verschwägert gewesen wären. Den Ärger spart er sich.

Johannes XXIII. (den gleichen Namen wird 1958 ein weiterer Papst für sich beanspruchen) erscheint als einziger der Oberhirten auf dem Konzil. Schon die Anreise läuft nicht rund. Auf dem Arlbergpass kippt er mit seinem Reisewagen in den Schnee: „Hier liege ich im Namen des Teufels“, soll er gerufen haben. Und später mit Blick auf Konstanz: „In so einem Nest fängt man Mäuse.“ Beim Einzug in die Stadt lässt er sich also nicht lumpen: Begleitet von einer prächtig ausstaffierten Kurie reitet er auf einem weißen Ross – das erste Papamobil – durch das Kreuzlinger Tor, Chorknaben ziehen ihm mit Engelsgesang entgegen, Ratsherren breiten einen goldenen Baldachin über ihn. So paradiert er, dem Volk die Heiligen Reliquien herzeigend, über die heutige Hussenstraße zum Münster, seinem Quartier. Eine große Show, von der man noch lange spricht.

Benedikt XIII. denkt gar nicht daran klein beizugeben

Ein Jahr später sucht er in Kleidern eines Knappen und im Schutze der Nacht das Weite. Er wird eingefangen, abgesetzt und in ein finsteres Loch gesteckt. Der zweite Papst, Gregor XII., ist davon so beeindruckt, dass er sich lieber auf einen Deal einlässt: Er darf 1416 das Konzil neu einberufen, muss danach aber gleich freiwillig zurücktreten. Fehlt der Dritte: Gegenpapst Benedikt XIII. Der stolze Spanier lebt irgendwo bei Valencia auf einer Felsenburg und denkt nicht daran, klein beizugeben. Er fühlt sich bis zum Tod als der echte Papst. Ernennt später sogar noch eigene Kardinäle, die seinen Nachfolger wählen sollen. Aber da hat ihn das Konzil schon lange abgesetzt und politisch kaltgestellt.

Die Kleriker bestimmen den Alltag in Konstanz. Es wimmelt von kleinen und großen Geistlichen, Beratern, Schreibern, Sekretären. Dauernd gibt es irgendwelche Messen, Prozessionen, ständig bimmeln irgendwo Glocken. In den Kirchen finden außer den normalen Gottesdiensten ständig Versammlungen statt. In der Stefanskirche tagt ein geistliches Strafgericht. Der König und sein Hofstaat haben die Dreifaltigkeitskirche okkupiert. Am Schluss lässt Sigismund das Gotteshaus noch schön ausmalen und reist ab, ohne zu zahlen.

Das Leben spielt sich im Freien ab. Um Schrannen und Imbissstände verkaufen Dutzende Metzger Rinderhappen, Schweineklöße, Wildsnacks, Lammgeschnetzeltes. Bäcker aus Oberitalien bringen die ersten pizzaähnlichen Teiglinge nach Deutschland. Beliebt sind auch Fladen mit Hühnern und Bodenseefelchen – Konzilburger sozusagen. Um die hungrigen Mäuler zu stopfen, wird gepökelter Fisch von der Ostsee herangekarrt, Weizen aus Oberschwaben, Wein aus dem Thurgau. Es gibt Frösche, Aale, Schnecken für die Feinschmecker. Und überall hängen große, mit Getreidegrützen gefüllte Keramiktöpfe. Weil die nie blank gereinigt werden, sondern jeden Tag der neue Brei auf den Rest des Vortags gekippt wird, beginnen die Gefäße nach ein paar Wochen zu stinken – und mit ihnen die Speisen. Wer es sich leisten kann, überdeckt die anrüchige Pampe mit exotischen Gewürzen vom Markt, die Ärmeren mit Feld- und Wiesenkräutern. Nur gegen den Mief der tausend Kloaken in den Hinterhöfen und den Viehdreck ist kein Kraut gewachsen. Auch hygienisch stößt Konstanz an seine Grenzen.

Mit jedem Tag muffelt es mehr. Das Konzil mit seinen Endlosdiskussionen über die rechte Lehre, seinen Ränkespielen, den Manövern und Wendungen in der Papstpolitik – es dauert und dauert. Und weil man gerade schon so nett zusammensitzt, lässt der König in der Zeit auch noch zwei Reichstage in Konstanz abhalten. Zwischendurch unternimmt Sigismund kurz den ehrgeizigen Versuch, den Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England zu beenden, reist ein Jahr lang in der Weltgeschichte umher, während das Konzil rumhockt, sich mit allen möglichen Dekreten beschäftigt, aber mit den eigentlichen Dingen nicht weiterkommt. Ohne König läuft halt nichts.

Keiner hat mit einem so langen Konzil gerechnet. Vielen Teilnehmern geht irgendwann das Geld aus. Und so machen sich rasch Bankiers wie Cosimo Medici mit ihren Läden breit, damit sich die Herren neu verschulden können. Die einheimischen Schuhmacher, Hufschmiede, Bader können die Nachfrage nicht annähernd befriedigen. Gastarbeiter müssen her. Ulrich Richental zählt allein 230 fremde Bäcker, 70 Wirte, 225 Schneider, 310 Barbiere, 71 Geldwechsler in Konstanz. Weil die verwöhnten Gäste auch weiter gehobene Lebensart pflegen wollen, wird die Stadt zum Tummelplatz für Goldschmiede, Pastetenbäcker, Kürschner, Schröpfer, Quacksalber, Seiden- und Weinhändler. In der Freizeit vergnügt man sich in Schweizer Badeorten, wo sich mancher über die gemischte Sauna wundert – in Italien unmöglich. Man lauscht Sackpfeifern und Lautenspielern, sieht Feuerspuckern zu, Schwertschluckern und Tänzerinnen. Es wird gefochten, gekegelt, gewürfelt, getrunken, gehurt.

Die armen Hübscherinnen

Die 700 angereisten Hübscherinnen sind bis auf die wenigen Kurtisanen der obersten Kreise, die in Stadthäuser oder auf Landgüter eingeladen werden, arme Frauen. Sie leben und bedienen die Männer in Bruchbuden oder Fässern am Stadtrand. Zudem müssen sie sich der Konstanzer Frauen erwehren, die dem Gewerbe nebenberuflich und zu Dumpingpreisen nachgehen. Ein so großes Problem, dass sich die Professionellen beim König beschweren und auf Tarifeinhaltung drängen. Noch lange nach dem Konzil geht ein Schimpfwort um in Konstanz: „Ain Concilium Kind“. Auch die Kardinäle sollen recht umtriebig gewesen sein.

Von ganz anderem Schlag ist der asketische Jan Hus. Der böhmische Reformator kritisiert den Klerus für sein Lasterleben und seine Habsucht. Er sieht in der Bibel und nicht im Papst die letzte Instanz bei Glaubensentscheidungen. Und die Autorität des Konzils erkennt er auch nicht an. Er ist nach Konstanz gekommen, um seine Schriften zu verteidigen. Sigismund verspricht ihm freies Geleit. Doch nach der Ankunft seiner schärfsten theologischen Gegner wird für Hus die Lage immer misslicher. Im November 1414 bricht der König sein Wort, Hus wird gefangen genommen. Einige wichtige Theologen versuchen noch, ihm Brücken zu bauen. Aber der Mann bleibt stur, lässt sich auf keinerlei Widerruf ein. Es folgt das Todesurteil wegen Ketzerei.

Am Morgen des 6. Juli 1415 wird Jan Hus erst mit den Gewändern eines Klerikers bekleidet, damit man sie ihm umso unehrenhafter wieder wegnehmen kann. Er bekommt eine mit Teufeln bemalte Mitra aus Papier aufgesetzt. Wird geschoren, gefesselt und auf die Richtwiese geführt. Hus, so ist überliefert, singt auf dem Scheiterhaufen. Man hat ihm also nicht die Gnade erwiesen, dass ihm der Henker vor dem Anzünden des Feuers den Kehlkopf brechen durfte. Seine Asche schaufelt man auf einen Schubkarren und kippt sie in den Bodensee. Wie ihm ergeht es seinem Gefährten Hieronymus von Prag. Weitere 22 Menschen werden zwischen 1414 und 1418 in Konstanz zum Tode verurteilt. Aber nur Ketzer brennen. Mörder und Räuber sterben bestenfalls durch das Schwert, Unehrenhafte ersticken am Galgen, werden lebendig begraben oder in einen Sack gesteckt und in den See geworfen.

Hus singt auf dem Scheiterhaufen

Der Tod von Jan Hus ist ein Volksfest wie jede Hinrichtung, ein mittelalterlicher Rummel mit Würstchen und Apfelmost. Er wird in Sachen Unterhaltungswert nur noch von der Papstwahl übertroffen. Am 8. November 1417 ziehen die Kardinäle ins Handelskontor der Stadt, eine auf tausend Eichenstämmen gebaute Markthalle am Seeufer, wo lombardische Kaufleute ihre Ware stapeln und an den deutschen Großhandel weiterverkaufen. Im Obergeschoss sind für das Konklave 56 kleine Butzen gezimmert worden, dürftig eingerichtet mit Bett, Tisch, Stuhl. In der Mitte der Versammlungsraum. Das Kaufhaus wird verriegelt, die Fenster werden mit Brettern vernagelt, Aufseher an der Treppe postiert, damit auch ja keiner Kontakt zur Außenwelt aufnehmen kann. Bei Kerzenschein sitzen die Männer zusammen, bis schließlich am 11. November, Martinstag, der neue Papst gefunden ist: Kardinal Oddo di Colonna – Martin V. Weißer Rauch steigt damals noch nicht auf.

Als im April 1418 das Konzil endet, ist es höchste Zeit. Kurz danach bricht die Pest in Konstanz aus. Wer die Blattern überlebt, kann noch eine ganze Weile von dem Reichtum zehren, den das Konzil hinterlassen hat. Aber schon zehn Jahre später geht es der Stadt wirtschaftlich sehr schlecht. Die Infrastruktur ist eine Nummer zu groß geschnitten, die Anschlussgeschäfte fehlen. Es gibt zu viele Spengler, Säckler, Schenken. So schnell gerät man von der Weltbühne auf die Kippe.

Wo Jan Hus verbrannt wurde, im heutigen Stadtteil Paradies, liegt seit 1863 ein großer Findling als Denkmal. In der früheren Markthalle, wo die Spaltung der Christenheit beendet wurde, ist heute ein Gasthaus. Im Obergeschoss, wo man 1417 in Konklave ging, sind heute Tagungsräume. Und von der Seeterrasse aus sieht man die Imperia-Statue im Hafen. Der Künstler Peter Lenk hat das Riesenweib aus Beton geschaffen. Es soll an das Konzil vor 600 Jahren erinnern: Eine Kurtisane mit vollem Busen und stolzer Haltung, ihr loses Gewand nur dürftig von einem Gürtel geschlossen, trägt zwei komische nackte Männchen auf Händen: Das eine hat eine Papstmütze auf dem Kopf, das andere einen Reichsapfel in der knochigen Faust. Zwei Zwerglein und die Herrscherin.