Julia ist eigentlich eine normale Neunjährige: Sie schwärmt für Lady Gaga, nimmt Tanzunterricht. Zur Welt gekommen ist sie als Junge.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Stuttgart - Eine Altbauwohnung in einer baden-württembergischen Universitätsstadt. Sabine Schmid (Name geändert) sitzt in der Küche, die wie alles hier akademisch-alternativ wirkt. Der Apfelsaft kommt naturtrüb vom Biobauern, der Fair-Trade-Kaffee wird von Hand aufgebrüht, und auf dem Esstisch brennt eine Duftkerze. Sabine Schmidt ist alleinerziehend. Die 40-Jährige trägt Hausschuhe, Jeans und eine Fleecejacke. Sie sagt: "Ich war nie so eine Tussi wie meine Tochter."

Julia kommt im Mai 2001 als Julian zur Welt. Als sich der Junge mit dreieinhalb Jahren ein rosa Röckchen wünscht, denkt Sabine Schmid noch: ein Spleen, der bald vorübergeht. Schließlich probieren sich alle Kinder in verschiedenen Rollen aus, sind mal Lokführer oder Ritter und dann wieder Tierärztin oder Prinzessin. Entwicklungspsychologen sprechen von "alterstypischem Explorationsverhalten".

Doch Julians Mädchenphase will nicht enden. Spielzeugautos und Playmobil verschmäht er, stattdessen stürzt er sich auf Barbiepuppen und den Lippenstift seiner Mutter. "Ich will kein Bub sein, ich bin ein Mädle", sagt er als Vierjähriger und fragt, ob man den Penis nicht einfach abschneiden könne: "Mama, ich will auch eine Scheide und einen Busen haben."

Mädchen sein auf Probe


Eine derartig ausgeprägte Rebellion gegen das angeborene Geschlecht, in der Fachsprache Cross-Gender-Verhalten genannt, kommt selten vor. Schätzungen gehen von drei bis fünf Fällen auf 10.000 Kinder aus. Die Betroffenen spüren ihre Andersartigkeit meist schon im Vorschulalter, sie fühlen sich im falschen Körper. In klinischen Statistiken tauchen Jungen fünfmal häufiger auf als Mädchen, doch solche Zahlen spiegeln die Realität nur bedingt wider: Ein Mädchen, das Hosen anzieht und Fußball spielt, fällt weniger auf als ein Junge, der Röcke trägt und Ballett tanzt. Nur bei etwa einem Viertel dieser Kinder legt sich das Cross-Gender-Verhalten wieder.

Im August 2006, bei einem Urlaub auf Lanzarote, darf Julian zum ersten Mal Julia sein – zunächst probeweise. Auf das Kind wirkt der Rollenwechsel wie ein Beruhigungsmittel. Erstmals seit Jahren nässt es sich nachts nicht ein. Die Menschen auf der Kanareninsel nehmen Julia als das war, was sie sein will. Sabine Schmid beschließt, dass ihre Tochter fortan immer so leben soll, wie es ihrem Wesen entspricht: Julia befindet sich zwar im Körper eines Jungen, besitzt aber die Seele eines Mädchens.

"Eine Störung der Geschlechtsidentität resultiert aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren", sagt Michael Kölch, leitender Oberarzt an der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Genetische Faktoren könnten durch die Erziehung im Elternhaus verstärkt werden. "Es bringt aber im Nachhinein wenig, nach den Ursachen zu suchen", sagt Kölch. Die Frage müsse lauten: Wie kann man einem Kind, das sein biologisches Geschlecht ablehnt, drohendes Leid ersparen?

Verwirrung an der Schule


Kölch rät Eltern, keinen Druck auf das Kind auszuüben. "Wichtig ist, dass es spielerisch männliches und weibliches Verhalten ausprobieren kann." Im Alltag könnten Kompromisse helfen. So könne man einem Jungen sagen: Du darfst in einem Mädchennachthemd schlafen, aber in der Schule ziehst du Hosen an. Generell gelte: "Es ist wichtig, dass sich nicht alles auf die Störung fokussiert und die Kinder so akzeptiert werden, wie sie sind."

Julia besucht eine Montessori-Schule, die – so heißt es in den Leitlinien – "das Kind und seine Individualität in den Mittelpunkt stellt". Bei einem Elternabend klärt Sabine Schmid über Julias Vorgeschichte auf. Die Reaktionen sind durchweg verständnisvoll. "Die Leute sind insgesamt viel aufgeschlossener, als ich erwartet hatte", sagt Sabine Schmid.