Der Medizinethiker Giovanni Maio fordert bei der Vortragsreihe „Gesundheit beginnt im Kopf“ in Stuttgart eine Rückbesinnung der Medizin auf ihre eigentliche Aufgabe: Kranken zu helfen. Sie dürfe Patienten nicht nur effizient durchs System schleusen.

Stuttgart - Giovanni Maio fordert eine neue Medizin, eine Rückbesinnung auf ihre eigentliche Aufgabe. Patienten würden heute effizient durchs System geschleust, Ärzte nach ökonomischen Kennzahlen beurteilt. Die Medizin sei einseitig und verarmt, sagt Maio, der an der Universität Freiburg einen Lehrstuhl für Medizinethik innehat bei der Veranstaltung „Gesundheit beginnt im Kopf“ in Stuttgart. Einseitig, weil sie nur schaut – etwa auf die Röntgenbilder und Blutwerte – und nicht zuhört. Maio fordert, den Patienten als Individuum anzuerkennen und ihn nicht – wie es politisch gewollt sei – nach einem Schema zu behandeln, sondern wie es zu ihm passt. Therapien würden ohnehin zu oft in aktionistischer Weise verordnet, um sich nicht mit dem Leiden des kranken Menschen befassen zu müssen.

 

Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Diesen Satz des Philosophen Arthur Schopenhauer zitiert der Moderator des Abends im Stuttgarter Rotebühlzentrum, der Arzt Suso Lederle. Giovanni Maio hält davon nicht viel. Damit würden Ärzte heute um Kunden werben, sagt er: Sie bieten die Wiederherstellung der Gesundheit und damit des Glücks. Dabei sollten sie sich vielmehr fragen, wie sie dem Patienten helfen können. Denn zu helfen erschöpfe sich nicht darin, alle Organe wieder funktionstüchtig zu machen. Das sei manchmal gar nicht möglich. Zu helfen bedeute auch, die inneren Ressourcen des Patienten zu stärken; der Patient dürfe sich nicht der Krankheit ausgeliefert fühlen. „Auch ohne Gesundheit ist es immer noch Dein Leben“, gibt Maio allen Kranken auf den Weg und versucht, ihnen Mut zu machen, eine neue Einstellung zum Leiden zu finden.

Erfahrung des Arztes vernachlässigt

In der Medizin wird stets danach gefragt, wie gut eine Therapie wirkt. Dazu müssen die Versuchsabläufe sauber geplant, protokolliert und statistisch ausgewertet werden. Auch auf dieser Nachrichtenseite wird regelmäßig über klinische Studien berichtet, in denen die Wirksamkeit etwa von Medikamenten geprüft und verglichen wird. Giovanni Maio bezeichnet das Bemühen um eine begründete Therapiewahl aber nur als eine von zwei Säulen der Medizin. Die andere, die vernachlässigte, sei die Erfahrung des Arztes, mit der er die Erkenntnisse aus den Studien auf den Patienten vor ihm anwendet. Das sei eben die Kunst, sagt Maio, die Kunst der Zuwendung und des Heilens – und manchmal auch des Seinlassens, denn nicht alles technisch Mögliche helfe dem Patienten. „Die Frage, was ein Arzt tun soll, ergibt sich nicht aus der Statistik.“ Dass diese Kunst vernachlässig werde, führt Maio darauf zurück, dass die Politik den Ärzten nicht vertraue: Sie habe den Verdacht, dass Ärzte Geld verschwenden, und schränke deshalb ihren Entscheidungsspielraum ein.

Suso Lederle hat in der von ihm gegründeten VHS-Gesprächsreihe „Gesundheit beginnt im Kopf“ schon weit mehr als 150 Abende moderiert. Ihm gehe es vor allem um Aufklärung, sagt er: Jeder solle für sich etwas tun. Auch hier zeigt sich Giovanni Maio skeptisch: Er unterstütze das Anliegen zwar, sehe aber auch eine Gefahr darin, wenn Vorbeugung nicht nur gefördert, sondern auch gefordert werde. „Krankheiten müssen ein Schicksal bleiben, für das man nicht zur Verantwortung gezogen wird“, sagt er. Als Beispiel nennt er Fettleibige, die oft zu hören bekommen, sie sollten sich zusammenreißen. Das helfe ihnen nicht weiter, sagt Maio. Zum Wissen um die medizinischen Zusammenhänge müsse das Gespräch kommen. Die gesellschaftlich Isolierten würden am wenigsten für ihre Gesundheit tun. Und mit diesem Hinweis geht die Veranstaltung zu Ende, bevor das Publikum eine Frage stellen kann.

Buchtipp:
Giovanni Maio: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit. Trias-Verlag Stuttgart 2014, 17,99 Euro.