Politik: Matthias Schiermeyer (ms)
Bisher hat die Bundesregierung zurückhaltend auf das Vorgehen Ankaras reagiert. Heute hat Außenminister Steinmeier wenigstens den Gesandten der Botschaft einbestellt. Ist das alles noch zu wenig an Kritik?
Man hat sehr lange zugeschaut, was sich in der Türkei entwickelt. Das Flüchtlingsabkommen bringt eine gewisse Befangenheit für Deutschland und andere europäische Länder mit sich. Jetzt muss sich Europa auf seine Ursprünge besinnen: Europa ist eine Wertegemeinschaft, für die Menschenrechte, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist. Da darf Europa bei der Türkei keinen Unterschied machen.
Die türkische Regierung droht, den Flüchtlingspakt aufzukündigen – hat sie wirklich ein Interesse daran?
Europa hat sich durch das Abkommen erpressbar gemacht, und Erdogan nutzt das immer wieder aus, den Pakt in verschiedenen Konflikten auf die Tagesordnung zu bringen. Von dem Abkommen profitiert die Türkei aber genauso wie Europa, so dass das eher eine leere Drohung ist.
Vermissen Sie Proteste gegen Erdogan in der deutschen Gesellschaft?
Das muss mehr auf der Ebene der Politik geschehen – aber nicht mit Drohungen wie die EU-Beitrittsverhandlungen oder die Visafreiheit aufzugeben. Beides kommt ohnehin nicht. Es muss Sanktionen geben, die Erdogan eher treffen statt ihn zu stärken.
Was wäre eine angemessene Reaktion?
Man sollte sich mit den Oppositionellen solidarisieren und vielleicht mit verschiedenen Delegationen in die Türkei reisen, um die Situation vor Ort zu sehen. Die jetzt verhafteten Menschen haben teilweise seit einer Woche keinen Kontakt zu ihrem Anwalt. Europa hat eine Pflicht, dies zu verfolgen.
Wären wirtschaftliche Sanktionen sinnvoll?
Ich wüsste nicht, was da passieren könnte. Die Türkei und Europa profitieren voneinander. Die Wirtschaft denkt an Geld – wo dies stimmt, denkt man nicht unbedingt an Menschenrechtsverletzungen.