In Karlsruhe vollzieht sich der größte Stadtumbau der Nachkriegsgeschichte. Die prognostizierten Kosten sind um 300 Millionen Euro gestiegen und die Bauarbeiten hinken zwei Jahre hinter dem Zeitplan her.

Karlsruhe - Die Pyramide von 1825, in der die sterblichen Überreste von Markgraf Carl Wilhelm, dem Namensgeber der Stadt, liegen, ist zum Schutz vor Erschütterungen mit Spundwänden eingefasst. Unter dem Wahrzeichen wird seit Monaten gegraben. Baumaschinen beherrschen den in seinen Grundrissen vor fast 200 Jahren vom großherzoglichen Baumeister Friedrich Weinbrenner geschaffenen Karlsruher Marktplatz.

 

In Nordbadens Metropole vollzieht sich der größte Umbau der Nachkriegsgeschichte. Alle Straßenbahnen der Kaiserstraße und am Marktplatz sollen unter die Erde. Die unterirdische Haltestelle soll 2,2 Kilometer lang sein. Zugleich entsteht in der benachbarten Kriegsstraße ein Tunnel für den Autoverkehr. Kombilösung nennt sich das.

Sechs bis acht in der Stadt und ins Umland verkehrende Straßen- und S-Bahn-Linien standen bisher dicht an dicht wie Barrieren. Als wäre dies eine Art Ersatzbahnhof. Auf Dauer erschien das vielen unzumutbar. „Man könnte meinen, ganz Baden-Württemberg müsste über Karlsruhes Marktplatz fahren“, hatte vor Jahren der Hochschulprofessor Werner Rothengatter gemeint, als noch heftig über die Grundsatzentscheidung für und wider den Tunnel gestritten wurde.

Nicht jeder nimmt die zu vielen Einschränkungen, Staub und Lärm führenden Baustellen so gelassen wie der kleine Bub, der an diesem Nachmittag von der Terrasse eines Cafés aus begeistert auf das Geschehen blickt. „Place de Liberté“ steht auf dem Schirm des Cafés: Ist das wirklich ein Platz der Freiheit? „Mehr geht immer“, titelte jüngst lakonisch eine Lokalzeitung. „Karlsruhe schottet sich von der Außenwelt ab“, hieß es da. Gemeint ist die nicht enden wollende Anzahl innerstädtischer Baustellen. Für August sind am Marktplatz weitere Nachtarbeiten angekündigt.

Das Chaos über Pfingsten

Wer die Karlsruher mal so richtig beim Bruddeln erleben will, der hätte in den Pfingstferien da sein müssen. In Deutschlands Baustellenhauptstadt, wie einige mittlerweile spotten, blieb die City zwei Wochen vom Stadtbahnnetz des Karlsruher Verkehrsverbunds abgehängt. Wieder einmal mussten Schienenstränge in der zentralen Kaiserstraße neu verlegt werden – alle paar Monate ist das der Fall. In diesen beiden Wochen aber kam so ziemlich alles zusammen, was auch bei privaten Häuslesbauern passieren kann: nicht abgestimmte Termine, unzureichende Ausführung, erfolglose Beschwerden wegen Mängeln am Bau.

70 Minuten Fahrtzeit für fünf Kilometer Luftlinie – inklusive zwei Mal umsteigen – waren keine Seltenheit. Zudem herrschte in den Sonderzügen des Shuttleverkehrs anfangs hoffnungslose Überfüllung. Beobachter berichten von einer Stimmung in den Waggons, wie man sie in Stuttgart zuweilen am Cannstatter Wasen erlebe, wenn Menschenmassen vom Volksfest oder VfB-Heimspiel zurück in die Stadt drängten. In Karlsruhe herrschte im Juni ein Ausnahmezustand.

Aber ein Ausnahmezustand ist in der 300 000 Einwohner zählenden Stadt eigentlich schon seit 2010 zu verzeichnen, mindestens aber seit nunmehr gut zwei Jahren, nachdem die Bauarbeiten an dem innerstädtischen Tunnel richtig in Gang gekommen sind.

Für Straßenbahnfahrer war in der Innenstadt schon immer höchste Konzentrationsarbeit gefragt. Derzeit häufen sich aber bei den Fahrern Krankheitstage, was zu dem längst aus den Fugen geratenen Fahrplanchaos hinzukommt. Da fallen schon mal einzelne Verbindungen aus. Und wer sich mit dem Auto ins Zentrum vorkämpfen will, der muss sich gut auskennen – ein Navi hilft da schon lange nicht mehr weiter.

Die Aufholjagd

„Wie komme ich zum Arbeitsplatz – und wieder nach Hause?“ Solche Fragen beschäftigen auch den Direktor des Regionalverbands, Gerd Hager, dessen Büro 250 Meter südlich des Marktplatzes liegt. Es sei „ein aufregendes Leben in Karlsruhe derzeit“, sagt er und lacht. Der Fußweg zur Arbeit sei vielleicht nicht der kürzeste, manchmal jedoch der schnellste. „Immer mal wieder nervt das Ganze halt.“

Der im März des vorigen Jahres neu ins Amt gekommene Oberbürgermeister Frank Mentrup hat gleich Ende April die östliche Kaiserstraße komplett für die Straßenbahnen sperren lassen. Der erste richtige Belastungstest. Schon an seinen Vorgänger Heinz Fenrich, der einst die Beschlüsse zum Tunnelbau herbeiführte, war dieser Wunsch der Baufirmen herangetragen worden, der aber bei ihm bis zum Ende seiner Amtszeit verhallte. Zu klein waren die zunächst angelegten Baufelder, der Bau verlief schleppend, der Marktplatz mit 45 Meter Breite in Ost-West-Ausdehnung und 70 Meter in Nord-Süd-Achse hätte eigentlich längst wieder überdeckelt sein sollen – schon im Frühjahr 2013 waren die Bauarbeiten um zwei Jahre in Verzug. Mentrup zeigte sich forsch und machte einen 600 Meter langen Abschnitt der Einkaufsmeile frei für Bauarbeiter. 15 Monate Bauzeit sollten durch diese Maßnahme aufgeholt werden. Akribisch war die Aktion vorbereitet worden, mit einer bis dahin für dieses Projekt nicht gekannten Öffentlichkeitsarbeit. Auf Umleitungsstrecken waren kleine gelbe Fußtritte auf die Gehsteige geklebt, um selbst Kindern „den Weg zu weisen“.

Mitten in die Trassensperrung hinein platzte dann im Juni dieses Jahres die Insolvenz des Baukonzerns Alpine, dessen deutscher Ableger den Zuschlag für die Kombilösung bekommen hatte. Der Chef der städtischen Baugesellschaft Kasig, Uwe Konrath, meinte als oberster Projektsteuerer unlängst, seine Aufgabe „sei an ständigen Turbulenzen kaum noch zu überbieten“. Ohne „eine Portion Grundhumor“ sei bei seiner Arbeit so manches gar nicht auszuhalten.

Plötzlich aber liefen mit der Sperrung des 600 Meter langen Abschnitts in der östlichen Kaiserstraße tatsächlich die Bauarbeiten auf Hochtouren. Die bis zu 150 Bauarbeiter konnten tatsächlich rund 15 Monate Bauverzug aufholen. In dieser Zeit gab die Fußgängerzone zwischen Marktplatz und Kronenplatz, befreit von Straßenbahnen, den ersten Vorgeschmack, wie es künftig sein könnte: alles ruhig, eine echte Erlebnis- und Flanierstrecke.

Die neue Ruhe

Rita Ottenbreit kennt die Situation der östlichen Kaiserstraße seit mehr als 25 Jahren. Sie wohnt in einer frisch sanierten Altbauwohnung, ist hochgezogen in den fünften Stock eines Mehrfamilienhauses. Über Pfingsten konnte sie die Ruhe genießen. „Wenn die tonnenschweren S-Bahnen im Überlandverkehr am Haus vorbeifahren, tanzen normalerweise die Gläser in der Vitrine.“ Ottenbreit, die früher als Bauzeichnerin arbeitete, ist „grundsätzliche Befürworterin des Tunnels“. Die Belastungen sieht sie gelassen: „Später wird alles besser und schöner.“

Es sind aber die vielen kleinen Malheure, welche die Leute in Rage bringen. Vor zwei Jahren kappte zum Beispiel ein Bagger beim Durlacher Tor östlich der Innenstadt ein Kabel, Zehntausende Anwohner hatten zwei Tage lang keinen Fernsehempfang. Angeblich hatten die Bauarbeiter keine aktuellen Pläne des Untergrunds vorliegen. Im vorigen Herbst standen zwei zehn Meter hohe Zementsilos vor dem kleinen Museum am Markt. Dann platzte ein Abfüllschlauch, Zementstaub entwich in das Museum und bedeckte die Vitrinen mit millimeterfeinem Belag. Das Haus musste drei Monate schließen.

Wenige Meter weiter südlich hat das Hotel am Markt sein Außencafé zwangsweise geschlossen. Schon im vorigen Sommer blieben die Stühle zeitweilig leer wegen des unzumutbaren Lärmpegels der Baustellen. Die Geschäftsführerin Nicolle Fellmoser reagiert mit Humor. Ein Transparent mit dem Text „Wir verstecken uns gleich hinter dem Bauzaun“ soll Aufmerksamkeit wecken. Aufgrund der Baustellen wurde ihr genehmigt, von August an ein neues Café auf der Dachterrasse hoch über dem Marktplatz zu eröffnen – mit 35 Plätzen und Blick auf die Baustellen.

Längst vergessen scheinen die Probleme der Grundwasserabdichtung. Am Kronenplatz und am Durlacher Tor im Osten stehen die ersten Haltestellen im Rohbau vor der Fertigstellung, zwölf Meter unter der Erde sollen die Gleise verlegt werden. Sieben Meter unter der Stadt beginnt schon der Grundwasserspiegel, die Tunnelbohrung wird mitten darin liegen. Am Durlacher Tor soll sich im kommenden Herbst eine 80 Meter lange Bohrmaschine des Tunnelspezialisten Herrenknecht in den Untergrund fräsen und dann sechs bis acht Monate später am anderen Ende der Kaiserstraße anlangen. Ohne die Verzögerungen wäre die Maschine mit einem Bohrquerschnitt von neun Metern schon im Frühjahr des vergangenen Jahres vor Ort gewesen.

300 Regressforderungen von Geschäftsinhabern

Uwe Konrath, der Chef der städtischen Baugesellschaft, räumt ein, dass seit dem Baubeginn rund 300 Innenstadtgeschäfte Regress eingefordert haben wegen Umsatzeinbußen, Mietminderung oder Lärmbelästigung. Vier Millionen Euro habe man ausbezahlt, zwei Mal Sofortzahlungen veranlasst wegen Existenzgefährdung. Konrath, der selbst zuvor als Bauleiter zahlreiche Neubaustrecken der Verkehrsbetriebe managte und sein Büro im Postbankgebäude am Ettlinger Torplatz hat, kriegt alles hautnah mit, was auf der Baustelle der Kombilösung geschieht.

Während Rita Ottenbreit in der östlichen Kaiserstraße im Spätherbst „neue Schwingungen in der Wohnung befürchtet“, dann nämlich, wenn die Tunnelbohrmaschine bei ihr „vorbeizieht“, bewundert der Oberbürgermeister – er wohnt seit sieben Jahren in der Stadt – die „immer wieder erstaunliche Gelassenheit der Karlsruher“. Er macht aus dem vom Vorgänger geerbten Projekt für sich das Beste. Wenn die Bohrmaschine von Herrenknecht in der Stadt angekommen ist, will er daraus eine Touristenattraktion machen. Schon jetzt gibt es zahlreiche Baustellenführungen des Vereins „Ja zur Kombilösung“. Zu eben jenem Jahrhundertprojekt, das der Karlsruher Kabarettist Gunzi Heil vor rund zehn Jahren noch „als kleinste U-Bahn der Welt“ verulkt hat. Bald ist sie wohl tatsächlich Wirklichkeit. Wenn auch die Kosten laut dem Oberbürgermeister Mentrup von ursprünglich geplanten 588 Millionen Euro auf bis zu 860 Millionen steigen könnten.

Schon im vergangenen Jahr hat der Karlsruher Grafiker Holger Tuttas mit seiner Baustellenkarte einen wahren Verkaufsknüller gelandet. Sieben städtische Plätze sind darauf abgebildet – alle mit Baumaschinen und Bauzäunen. „Gruß aus Karlsruhe“, steht auf einem pink-rosafarbenen Herzen mittendrin. Der Rathauschef Frank Mentrup hat sich mit der Karte abbilden lassen und sie im Bundestagswahlkampf als Begrüßungsgeschenk verteilt. Vielleicht ist das die Karlsruher Art, mit schwierigen Baustellen umzugehen.