Vor 60 Jahren traf der Boller Hermann Müller zufällig den Aussteiger Gusto Gräser. Heute bewahrt Müller den Nachlass des charismatischen Dichters auf.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Stuttgart - In den grauen Städten rauchen die Schlote der Fabriken. Die Bierbäuche der Männer sind kugelrund, die Frauen zwängen sich in Korsetts. Kinder sitzen Soldaten gleich an ihren Schulbänken, voll Furcht vor den Lehrern. Und Familien glotzen wie glitzernde Statuen, behängt mit Pelz und Tand, in die Linse der Fotografen. Eine ausstaffierte Puppengesellschaft.

 

Gusto Gräser Foto: Deutsches Monte Verità Archiv
Das schnürt die Luft ab. Und der Kragen platzt. Die gespreizte Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts produziert ihre Antagonisten: Am Lago Maggiore tanzen die ersten Hippies splitterfasernackt und befreit über die Wiesen. Die Kinder aus dem Dorf Ascona fallen vor Gusto Gräser auf die Knie und bekreuzigen sich. Sie glauben, der fremde Mann aus Siebenbürgen sei der Heiland. Er trägt Sandalen und Stirnband, lange Haare und einen Vollbart. Gusto Gräser hat hier Großes vor. Zusammen mit ein paar anderen tauft er den Berg über Ascona auf den Namen Monte Verità und will hier in der Schweiz eine Aussteigerkolonie gründen. Er glaubt, der Mensch müsse sich von Konventionen und Kapitalismus abwenden. Seine Idee: sich von nichts abhängig machen, frei sein. Gusto Gräser lebt in einer Höhle am Berg.

Sommer 1955: den Bauerssohn Hermann Müller aus dem kleinen Dorf Boll bei Göppingen zieht es in die Großstadt. Er geht als Student nach München. Bald kommt es dort zu einer Begegnung, die sein Leben und sein Denken grundlegend verändern wird.

Raubärtiger Naturmensch

Gusto Gräser kennt in München vom Sehen fast jeder. Der raubärtige Naturmensch fällt auch noch als Greis auf. Seine bewegten Zeiten liegen lange hinter ihm. Kaum einer weiß, dass er ein Dichter ist, Hermann Hesses Mentor war, Thomas Mann sich für ihn einsetzte, Hunderte ihm bei seinen Reden in den zwanziger Jahren zujubelten. Jetzt sitzt der Alte allein im Café Klein-Bukarest, in der Volksküche, wo er für 80 Pfennig isst, oder in der Staatsbibliothek. Ein Verrückter, sagen die einen, ein Landstreicher die anderen.

Ein faszinierender Mensch, denkt Hermann Müller. Der Student spricht den Gräser in der Bibliothek an. Der antwortet ihm mit einem seiner Gedichte: „Von Fels zu Felsen zieht’s mich, schaun und schaun / wie magst Du doch, Natur, so Hehres baun! / Bin ich nicht Du? – Bist Du nicht ich? / Du rauhes Land, wie lieb ich Dich!“ Danach geht Hermann Müller zur Tür hinaus und ist tief beeindruckt. „Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben einem Menschen begegnet zu sein“, sagt er heute.

Manchmal braucht es eine Reihe von Zufällen, bis Wege sich kreuzen, bis am Ende Schicksal daraus wird. Es scheint, als sei es unvermeidlich gewesen für den jungen schwäbischen Studenten Hermann Müller, in der bayrischen Großstadt über den alten Gusto Gräser zu stolpern. Und als seien all die Schriften, Briefe, Gedichte wie von Schicksalshand getragen vom Monte Verità über München ins beschauliche Knittlingen-Freudenstein bei Maulbronn gekommen. Württemberg war für Gusto Gräser Deutschlands „Herzgegend“ gewesen, ein zentraler Ort für viele Lebensreformer zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die Ideen des Querdenkers

In Freudenstein weist ein großer roter Pfeil an der Durchgangsstraße auf die Existenz einer Sparkasse hin. Viel mehr gibt es hier nicht auszuschildern. Hermann Müller, mittlerweile 82 und „schon ziemlich schwerhörig“, wie er sagt, klemmt sich hinter seinen alten Schreibtisch. Hier lebt und arbeitet er, in einem Hexenhäuschen am Waldrand. Es hat keine Adresse. „Beim Nussbaum rechts rein“, hat Hermann Müller zuvor erklärt. Hier pflegt er den Nachlass von Gusto Gräser, dessen Werke. Und hier verwahrt er Alltagsgegenstände wie die Reisetasche Gräsers und einen Kamm. Die Sammlung nennt er das „Deutsche Monte Verità Archiv“.

Abenteuerliche Geschichten liegen zwischen dem ersten Aufeinandertreffen von Gusto Gräser und Hermann Müller in der Münchner Staatsbibliothek und dem heutigen Tag, an dem es keinen Brief, keine theosophische Schrift und kein Gedicht von Gräser gibt, das nicht im Original oder in einer Abschrift in Hermann Müllers Wohnhaus liegt.

Nach einigen Tagen mit dem alten Reformer ist der junge Hermann Müller damals, vor fast 60 Jahren, tief beeindruckt. Für ihn gibt es jetzt nur noch ein Ziel: er will so werden wie der charismatische Künstler. Hermann Müller packt seine Sachen und zieht sieben Jahre durch Europa. Er lebt vom Feld, von Abfällen, schläft in Heuhaufen. Er möchte wild und frei sein, wie Gusto Gräser und die anderen Aussteiger einst am Monte Verità. Sie hatten schon 50 Jahre zuvor versucht, anders zu leben als der fette Großbürger.

Der wildeste Ort der modernen Welt

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Berg über dem Lago Maggiore der wildeste Ort der modernen Welt. Die frühen Hippies suchen nach Liebe und einer natürlichen und gesunden Existenz im Einklang mit der Natur. Politisch Verfolgte finden den Weg auf den Monte Verità. Die Bewohner und ihre Gäste essen Rohkost und schwören auf Nacktsonnenbäder. Zu Besuch kommen die schrillsten Persönlichkeiten der Jahrhundertwende: der Fürst Kropotkin, ein berühmter anarchistischer Theoretiker, oder der ungarische Militärarzt Skarvan. Lenin und Trotzki bleiben einige Tage. Der deutsche Anarchist Erich Mühsam wünscht sich Ascona als „Republik der Heimatlosen, der Vertriebenen, des Lumpenproletariats“. Freie Liebe predigt der skandalumwitterte, kokainabhängige Psychiater Otto Gross und verführt die Ehefrauen der anderen Männer. Der Tänzer Rudolf von Laban schart einen Harem um sich und gibt Kurse in ganzheitlichem Denken. Auch Mary Wigman, die Pionierin des expressionistischen Tanzes, wirbelt ekstatisch über den Berg, während die Pianistin Ida Hofmann über die Rolle der modernen Frau diskutiert.

Gusto Gräser bleibt nicht lange. Er zieht weiter, lebt bei Künstlern, Philosophen, Schriftstellern. 1913 bezieht er mit seiner Familie ein Gartenhäuschen in Degerloch. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte es ihn immer wieder nach Stuttgart gezogen. Hier hat er viele Freunde und Bekannte, er diskutiert seine Ideen mit anderen Querdenkern. Bald kennt ihn die ganze Stadt. Immer sonntags hält er bei der Schillereiche am Bopser Waldandachten, zwei Jahre lang kommen die Menschen aus ganz Württemberg, um ihm zuzuhören. Er predigt Pazifismus und Selbstfindung. Jeder solle so sein, wie er ist. Eine unverschämte Idee Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann wird Gusto Gräser, der Siebenbürger, plötzlich ausgewiesen. Der Vorwurf: er lebt in wilder Ehe, bringt Unruhe ins beschauliche Stuttgart.

Gusto Gräsers Leben bleibt ein Auf und Ab. Bis zum Ende. Er wird verfolgt, angefeindet und ausgewiesen. Doch immer kehrt er wieder zurück. Vor allem nach Württemberg. Er besucht die Kommune am Grünen Weg in Urach, wo Anarchisten, Kommunisten und Künstler das Idyll des Ermstals genießen. In Stuttgart-Sillenbuch schaut Gusto Gräser nach seinem Bruder Ernst, einem heute in Vergessenheit geratenen Maler. Auch nach Boll reist er, wo der bekannte Pfarrer Christoph Blumhardt über religiösen Sozialismus nachdenkt.

Aus Dichtung wird Wirklichkeit

Am 27. Oktober 1958 stirbt Gräser. Jetzt, wo sein Vorbild tot ist, stellt Hermann Müller sich zum ersten Mal die Frage: Muss ich selbst eine neue Hütte bauen, wenn einer vor mir schon eine prachtvolle errichtet hat? Ist es nicht eher meine Aufgabe, seine für die Nachwelt zu erhalten? Er will herausfinden, was vom Werk, den Gedichten Gusto Gräsers noch übrig ist. Müller geht zum Friedhof, spricht mit dem Pfarrer und erfährt: ein Teil des Nachlasses ist bei der Staatsbibliothek gelandet, ein anderer kam zu einer entfernten Verwandten Gusto Gräsers nach Stuttgart, die Hermann Müller später alle Sachen überlässt.

Aus kleinen Puzzleteilen setzt Müller das Leben von Gusto Gräser zusammen, schreibt alles, was in München in der Staatsbibliothek liegt, in den sechziger Jahren penibel ab. Hermann Müllers Faszination grenzt an Besessenheit, eine sture Bestimmtheit. Seit Jahrzehnten sammelt er, organisiert Ausstellungen, schreibt Bücher. Ohne ihn gäbe es heute sehr viel weniger Erinnerungen an Gusto Gräser und die frühen Hippies des Monte Verità. Ohne Hermann Müller hätte sich Gräsers Persönlichkeit nur noch in Hermann Hesses literarischen Figuren widergespiegelt: im „Demian“, im „Siddhartha“ oder im „Glasperlenspiel“. Hesse war Gusto Gräser am Monte Verità begegnet. Einige Tage lebte er in Gräsers Felshöhle, teilte mit ihm die Erfahrung der Einsiedlerschaft. Für Hesse wurde Gräser so etwas wie ein Guru.

Gräsers Ideen leben weiter

Hermann Müller erging es wie Hermann Hesse: Die kurze Begegnung mit dem Dichter, Maler, Naturfreund, Gesellschaftskritiker, Propheten und vagabundierenden Outsider hat ihn geprägt. Für die Arbeit an Gräsers Werken opfert Müller sein wildes Leben auf der Straße, zieht in ein Haus, wo er alles aufbewahren kann. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch: als Lastwagenfahrer, Hauslehrer, Gärtner, ist auf die Unterstützung seiner Familie angewiesen. Zweimal ist er verheiratet, er hat fünf Kinder. Wenigstens ein Dach über dem Kopf und seine Liebe kann er ihnen geben. Anders als Gusto Gräser, der seine Familie in Ascona zurückgelassen hatte.

Hermann Müller sagt: „Aus Dichtung kann Wirklichkeit werden.“ Doch dazu muss sie erst einmal überliefert werden. Eine Lebensaufgabe. Als er in den siebziger Jahren zu einem Fest auf den Monte Verità eingeladen wird, sieht Hermann Müller Bhagwan-Anhänger und Hippies. Da merkt er : Gräsers Ideen leben weiter.