Die Gymnastik-Weltmeisterschaften in Stuttgart rücken die anspruchsvolle Sportart in den Blickpunkt – wenigstens für eine Woche. Die Athletinnen kämpfen auch um mehr Beachtung in der Öffentlichkeit.

Sport: Gerhard Pfisterer (ggp)

Stuttgart - Rhythmische Sportgymnastik klingt so harmlos, nach ein bisschen Stretching mit Musik vielleicht, eine lasche Alternative im Fitness-Studio zu Stepaerobic oder Zumba. Die Wahrheit auf der Wettkampffläche sieht aber anders aus. Da fliegen Ball oder Reifen durch die Luft, während die Werferin – dem Takt des Begleitliedes gehorchend – Pirouetten dreht. Oder im Sprung in die maximale Spagatstreckung geht, ehe sie das Handgerät dann wieder fängt, wahlweise auch mal mit den Knien oder den Füßen. Oder die Athletinnen balancieren den Ball elegant mit einem Fuß neben dem Kopf, während sie sich mit beiden Händen auf dem Boden abstützen und einen sogenannten Bogengang vollführen.

 

Sportgymnastinnen beherrschen Bewegungen, die bei Fernsehübertragungen eigentlich mit einer „Bitte zu Hause nicht nachmachen“-Warnung garniert werden müssten. Was so spielerisch leicht aussieht, ist Ergebnis härtester Knochenarbeit. Und Entbehrung. Es ist Hochleistungssport. Die besten deutschen Athletinnen trainieren bis zu 40 Stunden in der Woche, um dann bei den Weltmeisterschaften wie diese Woche in der Stuttgarter Porsche-Arena pro Qualifikationstag von Montag bis Donnerstag einmal eineinhalb Minuten lang möglichst perfekt zu turnen, um das Mehrkampffinale der besten 24 am Freitag mit der Olympiaqualifikation (Top 15) zu erreichen.

Falsche Hymne, selbst gesungenes Siegerständchen

Was die jungen Frauen mit ihren kindhaften Körpern machen, lockt ganz verschiedene Menschen in die Halle. Das Kernpublikum in Stuttgart bilden junge Mädchen, bevorzugt mit einer Begeisterung für Gymnastik, Tanz und Turnen. Ihre Eltern schleppen sie gleich mit. Oder sie kommen in einer größeren Truppe voller Talente, deren Betreuerin dann aber sofort beschwichtigt, dass sie das Ganze „auf ganz normalem Niveau“ machten. Daneben sitzen immer wieder Damen und Herren mit Kunstsinn, mit Abo für die Oper oder zumindest ausgeprägtem Sinn für Ästhetik.

Dazu gesellen sich noch ein paar kleine ausländische Fangruppen mit Flaggen, vor allem aus Osteuropa. Die 30 Anhänger aus Aserbaidschan klingen den Besuchern mit ausgelassenen „Aserbaidschan, Aserbaidschan“-Rufen bei den Auftritten ihrer Lieblinge in den ersten WM-Tagen besonders in den Ohren. Und knapp 100 russische Fans sorgten am Dienstagabend für den außersportlichen Höhepunkt. Als bei der Siegerehrung mit dem Reifen zweimal die falsche Hymne eingespielt wurde, sangen sie diese einfach spontan selbst für Margarita Mamun und erhielten große Ovationen für das ganz persönliche Siegerständchen. „So etwas habe ich auch noch nicht erlebt“, sagt die Weltmeisterin.

500 Zuschauer tummeln sich in der Regel während der Qualifikationswettkämpfe in der Porsche-Arena, die mit dem aktuellen Aufbau 5000 fasst. Zur offiziellen WM-Eröffnung mit den ersten zwei Medaillenentscheidungen am Dienstagabend mit Ball und Reifen kamen 2500. Am Wochenende sollen es deutlich mehr werden, die Halle könnte vielleicht ausverkauft sein.

Riesenspaß in der Kinderturnwelt

Dann dürfte auch der Betrieb in der Kinderturnwelt in der Schleyerhalle noch zunehmen – und mehr als 100 bis 200 Kinder auf einmal dort aktiv sein. Kleine blaue und pinkfarbene Fußspuren weisen von der Porsche-Arena aus den Weg hinüber. Den „größten kostenlosen Indoorspielplatz der Welt“ nennt Wolfgang Drexler, der Präsident des Schwäbischen Turnerbundes, das Rahmenprojekt zur Bewegungsanimation. Die einen Kinder lauschen dort gespannt einem Clown, während die anderen an den verschiedenen Stationen herumtollen – oder sich an den sechs Spielkonsolen nahe des Eingangs beim Tennis, Boxen und Bowling sportlich geben.

Die Qualifikationstage in der Porsche-Arena sind lang. Sechseinhalb bis achteinhalb Stunden vergehen da inklusive einer Mittagspause vom Anfang bis zum Ende. Neben den europäischen Stars der Szene wie den Russinnen Jana Kudrjawzewa und Margarita Mamun oder der Ukrainerin Ganna Rizatdinova mit ihren formvollendeten Bewegungen turnen Exotinnen aus Angola oder Ecuador, die teilweise eine ganz andere Sportart zu machen scheinen. Dramatische Darbietungen wechseln sich mit komödiantischen Vorträgen und tänzerisch verspielt wirkenden Übungen ab. Mal tönen aktuelle Charthits als Begleitmusik aus den Lautsprechern, mal Popklassiker, mal Liebesballaden, mal Klassik oder Märsche, mal Hymnen, die an den Fluch-der-Karibik-Soundtrack erinnern. Gefühlt irgendwo immer wieder das gleiche Lied.

Es ist der Rhythmus, bei dem ansonsten in Deutschland keiner mit muss. „Ich finde, dass unsere Sportart zu wenig Anerkennung bekommt“, sagt die nationale Meisterin Jana Berezko-Marggrander (TSV Schmiden), die zurzeit auf vielen WM-Werbeplakaten in Stuttgart zu sehen ist. „Ich möchte als Botschafterin zeigen, wie toll die Sportart ist, was wir leisten, da steckt viel dahinter.“ Stretching mit Musik macht sie nur beim Aufwärmen. Und schon dieses Dehnen sieht nicht harmlos aus.