Kultur: Tim Schleider (schl)

Ein schwerer Fehler! Denn abseits der bekannten Zentralstücke sind unter den insgesamt 156 Märchen, die man unverfänglicher lieber Geschichten nennen möchte, wunderbare Entdeckungen zu machen – manche so poetisch-elegisch, wie es die meisten wohl erwarten, manche tief sentimental, ohne aber je kitschig zu werden. Viele sind schlicht witzig, ironisch, zupackend und schlagfertig. Und vor allem mit frappierend origineller Perspektive. Eine Teekanne brüstet sich beispielsweise in „Die Teekanne“ mit den erlesenen chinesischen Blättern, die in ihr schwimmen, verschweigt aber gern den Sprung in ihrem Deckel. „Der Mistkäfer“ wiederum verlässt gekränkt und empört seinen heimatlichen Stall, weil ihm verwehrt wird, was des Kaisers Pferde so mir nichts, dir nichts bekommen, nämlich goldene Hufeisen. Unter solchen Umständen zieht er lieber empört in den auswärtigen Schlamm. Auf allerlei Reisen war auch „Der Flaschenhals“, jedenfalls zu Zeiten, da er noch als Teil einer kompletten Flasche diente. Nun nützt er nur noch als Torso in einem Blumenkasten als Vogeltränke und rekapituliert seine Existenz. Welcher Leser wird da nicht auch neue Perspektiven auf seine eigene Existenz gewinnen?

 

Und in der Geschichte „Der Hofhahn und der Wetterhahn“ zeigt Andersen dem Leser gar, dass man die ganze Welt durch die Gedanken einer Gurke betrachten kann. Die hat von ihrem Mistbeet aus zwei Hähne im Blick; der eine stolziert über den Hof, der andere quietscht auf dem Kirchturm. Ihre Gunst gehört dem ersten: „Nein, der Hofhahn, das ist ein Hahn! Ihn krähen zu hören, das ist Musik! Wo er hinkommt, kriegt man zu hören, was ein Trompeter ist! Wenn er hier hereinkäme,“ - die Gurke meint just ihr umzäuntes Mistbeet – „wenn er mich mit Blatt und Stiel auffräße, wenn ich in seinem Körper aufginge, es wäre ein seliger Tod!“ Über derlei Lebenssichten hätte man vor dreißig Jahren in poststrukturalistischen Seminaren ganze Hausarbeiten schreiben können. Zum Glück kann man sich darüber aber auch einfach nur amüsieren.

Man riecht’s: Der Gast bekommt keine frischen Handtücher

Selbst in Momenten größter Burleske sind Andersens Geschichten von einer tiefen, anrührenden Zärtlichkeit und Anteilnahme. In einer Zeit wie heute, die just dies nicht gerade zu ihren Stärken zählt, sind sie darum eine ideale Urlaubslektüre. Im Privaten seines eigenen Lebens hätte sich der Däne, der es aus einfachsten sozialen Verhältnissen zum Bestseller-Autor schaffte, bei allem äußeren Glanz ebenfalls ein wenig mehr Anteilnahme und Zärtlichkeit gewünscht. So trieb es ihn auf Reisen, manchmal zu Schönem, vor allem aber quer durch windige Kutschen und lausige Betten, 29-mal in insgesamt 21 Länder. Das war doll für sein 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert können wir Reisende es noch wesentlich doller treiben. Aber unser Motiv ist doch eigentlich das gleiche: sich und den Dingen wieder näher kommen. Deswegen fühlt man sich Andersen hier und heute wohl so nah.

Übrigens, vor schlechten Herbergen in Basel sei gewarnt: Nach dem Waschen von Augen und Mund bemerkt der Dichter, dass die Handtücher offensichtlich nicht frisch sind. „Vom Besuch dieses Hotels muss man abraten“.

Lektüre: Zwei schöne Andersen-Ausgaben für Erwachsene: „Märchen und Geschichten“ in der Reclam Bibliothek (512 Seiten, 24,95 Euro) und die „Gesammelten Märchen“ in der Manesse Bibliothek (2 Bände, 648 Seiten, 24,90 Euro). Reinhard Gröpers kleiner Band „Einen Franken für zwei belegte Brote! Hans Christian Andersen reist in Baden und Württemberg“ ist über den Buchhandel beim Verlag J. F. Hagenlocher in Tübingen zu bestellen (24 Seiten, 14,80 Euro).

Nichts, was Gröper in seinem Band versammelt hat, ist wirklich wichtig, aber alles dennoch rasend interessant. In Stuttgart übernachtet Andersen 1860 mit einem 24-jährigen Landschaftsmaler aus Basel im Hause Hoffmann, Rotebühlstraße 77. Über Beziehungen bekommt er Logenplätze im Hoftheater. Aber da zieht’s; Zugluft ist auch so ein apokalyptischer Reiter für den Dichter. Hinterher hockt er mit Schnupfen daheim, der Gastgeber versorgt ihn mit Punsch und zwei zusätzlichen Federbetten. War wenigstens die Oper schön, Mozarts „Titus“? Nun ja, sagt der Theaterliebhaber Andersen, „als Aufführung nichts Besonderes“.

Dieser Blick auf das Kleine, eigentlich Nebensächliche, Randständige, das weit abseits des Bedeutungszentrums doch auch seinen Rang, seine ganz eigene Perspektive und darum Würde hat – man liest gern davon, weil man dies auch aus so vielen der kleineren Geschichten Hans Christian Andersens kennt und schätzen kann. Beim größten Teil des Publikums ist er ja als dänischer Märchenfürst abgespeichert, und also abgehakt und links liegen gelassen. Natürlich weiß man, dass es sich bei der „kleinen Meerjungfrau“ und der „Schneekönigin“, beim „hässlichen Entlein“, dem „standhaften Zinnsoldaten“ und dem „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ um Personal der Weltliteratur und auch der Popkultur handelt. Aber nur wenige kommen auf die Idee, die Quellen zum Gegenstand einer Erwachsenen-Lektüre zu machen.

Die Gurke im Mistbeet möchte dringend verspeist werden – aber nur von einem echten Hahn!

Ein schwerer Fehler! Denn abseits der bekannten Zentralstücke sind unter den insgesamt 156 Märchen, die man unverfänglicher lieber Geschichten nennen möchte, wunderbare Entdeckungen zu machen – manche so poetisch-elegisch, wie es die meisten wohl erwarten, manche tief sentimental, ohne aber je kitschig zu werden. Viele sind schlicht witzig, ironisch, zupackend und schlagfertig. Und vor allem mit frappierend origineller Perspektive. Eine Teekanne brüstet sich beispielsweise in „Die Teekanne“ mit den erlesenen chinesischen Blättern, die in ihr schwimmen, verschweigt aber gern den Sprung in ihrem Deckel. „Der Mistkäfer“ wiederum verlässt gekränkt und empört seinen heimatlichen Stall, weil ihm verwehrt wird, was des Kaisers Pferde so mir nichts, dir nichts bekommen, nämlich goldene Hufeisen. Unter solchen Umständen zieht er lieber empört in den auswärtigen Schlamm. Auf allerlei Reisen war auch „Der Flaschenhals“, jedenfalls zu Zeiten, da er noch als Teil einer kompletten Flasche diente. Nun nützt er nur noch als Torso in einem Blumenkasten als Vogeltränke und rekapituliert seine Existenz. Welcher Leser wird da nicht auch neue Perspektiven auf seine eigene Existenz gewinnen?

Und in der Geschichte „Der Hofhahn und der Wetterhahn“ zeigt Andersen dem Leser gar, dass man die ganze Welt durch die Gedanken einer Gurke betrachten kann. Die hat von ihrem Mistbeet aus zwei Hähne im Blick; der eine stolziert über den Hof, der andere quietscht auf dem Kirchturm. Ihre Gunst gehört dem ersten: „Nein, der Hofhahn, das ist ein Hahn! Ihn krähen zu hören, das ist Musik! Wo er hinkommt, kriegt man zu hören, was ein Trompeter ist! Wenn er hier hereinkäme,“ - die Gurke meint just ihr umzäuntes Mistbeet – „wenn er mich mit Blatt und Stiel auffräße, wenn ich in seinem Körper aufginge, es wäre ein seliger Tod!“ Über derlei Lebenssichten hätte man vor dreißig Jahren in poststrukturalistischen Seminaren ganze Hausarbeiten schreiben können. Zum Glück kann man sich darüber aber auch einfach nur amüsieren.

Man riecht’s: Der Gast bekommt keine frischen Handtücher

Selbst in Momenten größter Burleske sind Andersens Geschichten von einer tiefen, anrührenden Zärtlichkeit und Anteilnahme. In einer Zeit wie heute, die just dies nicht gerade zu ihren Stärken zählt, sind sie darum eine ideale Urlaubslektüre. Im Privaten seines eigenen Lebens hätte sich der Däne, der es aus einfachsten sozialen Verhältnissen zum Bestseller-Autor schaffte, bei allem äußeren Glanz ebenfalls ein wenig mehr Anteilnahme und Zärtlichkeit gewünscht. So trieb es ihn auf Reisen, manchmal zu Schönem, vor allem aber quer durch windige Kutschen und lausige Betten, 29-mal in insgesamt 21 Länder. Das war doll für sein 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert können wir Reisende es noch wesentlich doller treiben. Aber unser Motiv ist doch eigentlich das gleiche: sich und den Dingen wieder näher kommen. Deswegen fühlt man sich Andersen hier und heute wohl so nah.

Übrigens, vor schlechten Herbergen in Basel sei gewarnt: Nach dem Waschen von Augen und Mund bemerkt der Dichter, dass die Handtücher offensichtlich nicht frisch sind. „Vom Besuch dieses Hotels muss man abraten“.

Lektüre: Zwei schöne Andersen-Ausgaben für Erwachsene: „Märchen und Geschichten“ in der Reclam Bibliothek (512 Seiten, 24,95 Euro) und die „Gesammelten Märchen“ in der Manesse Bibliothek (2 Bände, 648 Seiten, 24,90 Euro). Reinhard Gröpers kleiner Band „Einen Franken für zwei belegte Brote! Hans Christian Andersen reist in Baden und Württemberg“ ist über den Buchhandel beim Verlag J. F. Hagenlocher in Tübingen zu bestellen (24 Seiten, 14,80 Euro).