Sommer, Sonne, Ferien und Zeit für Ausflüge: Wir wagen den Aufstieg auf berühmte Kirchtürme in Baden-Württemberg. Hoch über und zugleich mitten in der Stadt ist man auf dem Turm der Heidelberger Heiliggeistkirche.

Heidelberg - Wer die Heidelberger Altstadt und ihre Umgebung von oben sehen möchte, der muss sich eigentlich nicht die Mühe machen auf einen Turm zu steigen. Man kann mit der Bergbahn bequem zum Schloss und bis hinauf zum Königstuhl fahren, wo einem das Neckartal, die Hänge des Odenwalds und die Weiten der Rheinebene zu Füßen liegen. Oder man kann – auf der anderen Seite des Tals – den Philosophenweg hinauf wandern, wo einst schon Johann Wolfgang von Goethe die „ideale Lage“ der Stadt bewunderte.

 

Dennoch erklimmen jedes Jahr Tausende von Besuchern den Turm der Heiliggeistkirche mitten in der Stadt. Lohnt sich die Mühe? „Kommen Sie mit!“, sagt Reinhard Störzner, Kirchenältester der Gemeinde und Gästeführer der Stadt. „Da muss ich nicht viel dazu sagen: Wir haben hier einfach die beste Sicht.“ 208 Steinstufen geht es, vorbei an der Empore der Kirche, über Wendeltreppen hinauf. Das ist zu schaffen, auch wenn man am Ende ein bisschen den Drehwurm kriegen kann. Nach nur wenigen Minuten steht man auf dem umlaufenden Balkon in halber Höhe des Turms. Da kann es einem dann – nicht nur wegen des Aufstiegs – Atem und Sprache verschlagen angesichts der Aussicht: Das Schloss liegt so nahe wie sonst selten; auf der einen Seite fließt der Neckar, auf der anderen reicht der Blick bis zum Pfälzer Wald und unten leuchten die roten Dächer der Altstadt in der Sonne. Dazu das Auf und Ab der Giebel-Landschaft über den meist engen Quartieren. „Wir haben ja eine mittelalterliche Stadt im barocken Gewand“, sagt Störzner, „dazu kommen viele schöne Dachgärten“.

Gästeführer Störzner kommt auch wegen des Abendrots

Man sieht die alte und die neue Universität, das Rathaus, die Alte Brücke, die Türme der anderen Altstadtkirche von der Jesuiten- über die Peterskirche bis zur Providenzkirche. „Wenn man auf dem Schloss steht, geht der Blick immer ins Weite. Hier bei uns ist man über der Stadt und zugleich mitten drin“, findet Störzner. Auch ihn zieht es immer wieder hinauf. Am Sonntag, nach dem Gottesdienst, wenn noch ein paar Gäste auf den Turm wollen, begleitet er sie gern. Und manchmal, verrät er, steigt er am Ende es Tages auch allein hinauf, „einfach wegen des Abendrots“.

Die Heiliggeistkirche, errichtet von 1398 bis 1515, ist die größte und bedeutendste Kirche in Heidelberg. Sie steht direkt an der Hauptstraße und dem Marktplatz, ihr Turm prägt zusammen mit der Ruine des Schlosses und der Alten Brücke das Bild der Stadt seit den Zeiten Merians. In ihr lässt sich die wechselvolle Geschichte der Kurpfalz und ihrer Herrscher nachvollziehen. In einem Vorgängerbau der heutigen Kirche haben sich anno 1386 die Professoren zur Gründung der Universität versammelt, in ihr wurde 1986 auch feierlich das 600-Jahr-Jubiläum der ältesten deutschen Hochschule begangen.

Einst beherbergte die Empore die „Biblioteca Palatina“

Die heute evangelische Kirche war ursprünglich eine Tochter der älteren Kirche St. Peter, die nach der Zwangsumsiedlung der Bewohner aber vor die Mauern der Stadt gerückt war. Unter Kurfürst Ruprecht III. wurde sie 1400 zu Stiftskirche erhoben und zur Grablege der pfälzischen Herrscher bestimmt. Ihre Empore beherbergte mehr als zwei Jahrhunderte die berühmteste Bibliothek nördlich der Alpen, die „Biblioteca Palatina“, bis sie ein Jahr nach der Eroberung der Stadt durch den Feldherrn Tilly im Dreißigjährigen Krieg 1623 vom bayrischen Herzog Maximilian auf Geheiß des Papstes nach Rom abtransportiert wurde – wo sie bis heute geblieben ist.

Der „Raub der Palatina“ wurde in Heidelberg lange als Schmach betrachtet, inzwischen hat sich aber längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass es die einmaligen Schriften kaum noch gäbe, wären sie damals nicht im Vatikan gelandet. Schon beim „Großen Brand“ der Stadt, nach der zweimaligen Einnahme und Verwüstung Heidelbergs durch die Truppen des französischen Sonnenkönigs in den Jahren 1689 und 1693 im Orleanschen Krieg um das Erbe der Kurpfalz, als sich die Heidelberger im Mai 1693 in die Heiliggeistkirche flüchteten, waren deren Dach und Turm niedergebrannt. „Was ist nicht alles um diese bedeutende Kirche herum und in ihr geschehen?“, fragt der Schriftsteller Michael Buselmeier in seinen „Literarischen Führungen durch Heidelberg“: „Brände, Festzüge, Enthauptungen, Bilderstürme, Kriege, die Pest. Unterm Auge der Kirche war dauernd Bewegung. Zwischen den Strebepfeilern des Chors wie des Langhauses haben sich schon im Mittelalter Läden eingenistet: Metzger- und Bäckerbuden, Handwerker, aber auch Schreiber, bei denen man Eingaben an die Obrigkeit anfertigen lassen konnte“. Seine eindrucksvolle barocke Zwiebelhaube hat der Turm der ursprünglich gotischen Kirchen Anfang des 18. Jahrhunderts bekommen. Unter seinem Dach hat einst ein Feuerwächter seinen Dienst versehen. Allerdings war er der Überlieferung zufolge offenbar nicht immer auf dem Posten. Den legendären „Brand im Hutzelwald“ im 19. Jahrhundert hat der Mann jedenfalls regelrecht verschlafen.

„S´muss eener nuff de Feuerwächter wecke, er soll die Brandfahn uffm Dorn rausschtrecke“, reimte anschließend süffisant der Heimatdichter Karl Gottfried Nadler. Doch im Rathaus war man sich damals ohnehin lange nicht einig, wie man das Feuer im Wald am besten bekämpfen sollte. Das hat dann glücklicherweise der Regen erledigt.

Die Wanderfalken nisten seit Jahren auf dem Kirchturm

Heute halten anstelle übermüdeter Turmwächter zwei Wanderfalken oben die Stellung. Bis 1953, berichtet Hans-Martin Gäng, ihr unermüdlicher Pate, nisteten die edlen Vögel noch auf dem Pulverturm des Schlosses – anschließend waren sie lange Zeit in ganz Süddeutschland vom Aussterben bedroht. Der ehemalige Schulleiter war 1997 aus dem Schwarzwald, wo es damals noch zwei Paare gab, nach Heidelberg gekommen. 1999 hatte er die Idee, mit seinen Schülern einen Nistkasten zu bauen und ihn auf dem Kirchturm von Heiliggeist unterzubringen. „Was wollen Sie machen?“ haben sie ihn seinerzeit bei der Kirchenbauverwaltung gefragt. „Da wurde ich schon ein bisschen ausgelacht“ erinnert sich Gäng. Doch schon ein Jahr später hat über der Altstadt wieder ein Falkenpaar gebrütet. 50 Junge sind seither dort oben zur Welt gekommen. Die Falken sind eine Attraktion und wurden Vorbild für viele ähnliche Ansiedlungsprojekte in halb Europa. Wer gute Augen hat, kann sie vor Ort beobachten, noch einfacher geht es im Internet; im Rathausfoyer kann man die Bilder der Webcam verfolgen. Nur Gäng selbst darf regelmäßig hinauf und verfolgt das Treiben am Nest. Höhenangst kennt er nicht. „Hier oben ist es umwerfend“, versichert er.