Sein Bemühen um wirtschaftliche und soziale Stabilität – das Wort Reformen vermied er – fiel in eine Zeit, in der die Regierung auf ganz andere Weise herausgefordert wurde – durch den RAF-Terrorismus. Schon den Austausch des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz, dem er zunächst zugestimmt hatte, hat Schmidt später für einen Fehler gehalten. Die freigepressten Terroristen waren nach Deutschland zurückgekehrt und verstärkten die RAF. Der Staat, das war Schmidts Überzeugung, durfte sich nicht noch einmal erpressen lassen. Die Nagelprobe kam mit dem Überfall auf die Botschaft in Stockholm und dann mit der Entführung Hanns Martin Schleyers. Später sollte er bekennen: „Es war die schwerste Zeit, die ich als Politiker, als Bundeskanzler erlebt habe.“ Zwar konnte er die Geiseln von Mogadischu retten, nicht aber das Leben Schleyers, mit dem er befreundet war. Obwohl er sich objektiv nicht schuldig gemacht hatte, plagte ihn danach ein Gefühl der großen Schuld, des Versagens.

 

Das hing auch mit seiner Auffassung von Politik zusammen. Moral und Verantwortung, so sagte er einmal, „kann nicht beim Staat, sondern nur in Personen liegen“. Den von ihm hoch geschätzten Philosophen Karl Popper nannte er einmal einen „Lehrer der persönlichen Verantwortung“. Das konnte bedeuten: sich rechtfertigen, notfalls gar abtreten zu müssen. Mit diesem Verständnis hätte Schmidt seinen Abgang nach einem Fehlschlag in Mogadischu begründet. Schon als die Kanzlerschaft 1974 auf ihn zulief, hatte er „Angst vor dem Amt, genauer gesagt, Angst vor der Verantwortung“. Es hat wohl keinen Politiker in der Bundesrepublik gegeben, der sein Handeln derart ethisch-philosophisch zu begründen versuchte. Allerdings redete er nicht gern darüber. Marion Gräfin Dönhoff sagte über ihn: „Was ihn tief in seinem Innersten bewegt, habe ich nie erfahren.“ Dabei kannte sie ihn gut, hatte sie doch wesentlich dazu beigetragen, dass Schmidt nach seiner Abwahl 1982 Mitherausgeber der „Zeit“ wurde und eine rege publizistische Wirksamkeit entfalten konnte.

Ein weiser Mahner und Zeitanalytiker

Gescheitert ist dieser Kanzler letztlich an seiner Überzeugungstreue, an seinem Bemühen, das für richtig Erkannte durchzusetzen, auch wenn es unpopulär war. Dazu gehört sein Eintreten für den Nato-Doppelbeschluss, mit dem einer sowjetischen Vorrüstung mit Kurzstreckenraketen begegnet werden sollte. Seine Partei hat ihn dabei im Stich gelassen wie zuvor schon in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Am Ende sprang der Koalitionspartner FDP ab. Zwar hat Regierungssprecher Klaus Bölling versucht, den Liberalen die Schuld am Sturz des Kanzlers zuzuschieben, aber die Wahrheit ist das nicht.

Als weiser Mahner und Zeitanalytiker erlebte Helmut Schmidt eine zweite Karriere. In der Rolle des Elder Statesman war er konkurrenzlos. Seine autobiografische Bilanz „Außer Dienst“ wurde ebenso zu einem Erfolgsbuch wie seine Gespräche mit dem Altersgenossen Fritz Stern über „Unser Jahrhundert“. Und auch die eher lockeren Unterhaltungen mit dem „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo „Auf eine Zigarette“ nahmen die Leser gerne an. Hoch geschätzt, ja geradezu geliebt haben die Deutschen das Ehepaar Helmut und Loki Schmidt. Es hatte mehr als nur Vorbildcharakter. Nach fast siebzig Jahren Ehe starb Loki Schmidt im Oktober 2010. „Loki hatte keine Angst vor dem Tod“, sagte Helmut Schmidt nach ihrer Beisetzung, „und ich habe sie auch nicht“.