Was unterscheidet den Pariser Mai 68 von den zur gleichen Zeit in Deutschland oder auch den USA aufgeflammten Protesten?
Was mir einmalig vorkommt, ist diese totale Unberechenbarkeit der Pariser Revolte. Aus heiterem Himmel brach sie los, niemand hatte sie vorausgesehen, eine Überraschung folgt der anderen. Dass der Rektor der Pariser Sorbonne die Polizei ruft, um „ein paar Störer“ entfernen zu lassen, führt eine Woche später zur „Nacht der Barrikaden“ im Quartier Latin mit Hunderten von Verletzten. Drei Tage später nur rufen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf, schließen sich Arbeiter der Revolte an, protestieren in Paris eine Million Menschen gegen de Gaulle. Wir haben ständig improvisiert. Viel Witz, Ironie, auch Selbstironie war im Spiel. Ich hatte den Eindruck, dass es in Deutschland 1968 an den Universitäten deutlich weniger lustig zuging. Und anders als in Deutschland folgten in Frankreich dann ja auch nicht bleierne, von Terror überschattete Jahre.
Wie kam es, dass nach einem Monat alles auch schon wieder vorbei war, die Revolte in sich zusammenfiel?
Die Angst vor uns hat Rechte und Linke geeint. Die Rechte stellte sich hinter de Gaulle, der mit Neuwahlen einen Ausweg aus dem Aufruhr wies. Frankreichs Linke schloss sich an. Kommunisten und Sozialisten sagten sich: Hauptsache, die das Land destabilisierende Studentenrevolte hört endlich auf. Hinzu kam, dass es Ministerpräsident Georges Pompidou gelungen war, die Situation an der Arbeiterfront zu entschärfen. Der Premier konnte die Unternehmer überzeugen, dass sie um des sozialen Friedens willen tief ins Portemonnaie zu greifen hatten. Pompidou trotzte ihnen eine Erhöhung des Mindestlohns um 35 Prozent ab, eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 43 auf 40 Stunden und ein früheres Renteneinstiegsalter.

Das gesellschaftliche Band muss neu geknüpft werden

Zurzeit gärt es wieder in der französischen Gesellschaft. Ob bei Eisenbahnern, Krankenhauspersonal und nicht zuletzt auch bei den Studenten – allseits regt sich Unmut. Entsteht da gerade eine neue, große Protestbewegung?
Der Gewerkschaftsdachverband CGT mag sich das wünschen. Aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Unsere Gesellschaft ist heute schrecklich fragmentiert. Die große Herausforderung besteht darin, das gesellschaftliche Band neu zu knüpfen zwischen Leuten, die gänzlich unterschiedliche, wenn nicht einander zuwiderlaufende Interessen verfolgen. Das größte Hindernis dabei ist, dass Teile der Bevölkerung nicht akzeptieren wollen, dass Frankreich heute ein multikulturelles Land ist. In anderen Teilen der Zivilgesellschaft hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt. Aber die Politik hinkt hinterher. Statt Brücken zu schlagen, vertiefen die Politiker diese Gräben noch, integrieren nicht, sondern grenzen aus.
Daran wird sich bis zum Ende der Legislaturperiode 2022 wohl nichts ändern.
Wer weiß. Ich habe im Pariser Mai 68 gelernt: Eine depressive, leblose oder herumjammernde Gesellschaft kann von einem Augenblick auf den anderen erwachen und sagen: So, jetzt ist Schluss! Und dann gerät alles aus den Fugen.