Ingenieur Matthias Riedel aus Feuerbach hat ein Assistenzsystem entwickelt, das älteren Menschen helfen kann, länger eigenständig zu leben.

Feuerbach - Eine ältere Frau hatte Gicht und musste dagegen Medikamente einnehmen. Diese bewahrte sie in einer dazu gehörigen Pillendose auf. Eigentlich hätte sie dem Hersteller der Box bei einer Nutzer-Befragung getrost sagen können, dass das ihr zur Verfügung gestellte Behältnis für sie völlig ungeeignet sei. Doch sie tat es nicht. Stattdessen antwortete sie: „Ich habe keine Probleme damit.“ Irgendwann führte die Frau einem interessierten Pharmavertreter in ihrer Küche vor, wie sie trotz ihrer Gicht an die Pillen herankam: „Sie ging zu ihrer Brotschneidemaschine und hat den Deckel der Plastikdose abgesägt“, sagt Matthias Riedel.

 

Die Benutzbarkeit steht im Vordergrund

Der Ingenieur aus Feuerbach erzählt diese Geschichte ganz gern, um damit zu verdeutlichen, was bei der Entwicklung von Produkten falsch laufen kann. Und um zu demonstrieren, worauf es wirklich ankommt. Die Benutzbarkeit, neudeutsch Usability, steht gerade bei seniorengerechten Produkten im Vordergrund. Anders ausgedrückt: Die Form ergibt sich aus der Funktion. „Am besten ist, wenn es ein Gerät für eine Funktion gibt.“ Riedel ist da ein Verfechter des Minimalismus: „Ich frage nicht, was könnte ich noch alles dazutun, sondern ich frage, was könnte ich alles weglassen.“ Je mehr Funktionen ein Gerät beinhalte, desto schwieriger werde dessen Handhabung. Und alles was komplex sei, könne auch leichter ausfallen.

Riedel betont, er „denke immer in ganzen Systemen“. Bei diesem Konzept, Dinge zu entwickeln, sei es wichtig, zu beobachten, zu analysieren und mit den späteren Nutzern im Fortgang des Geschehens zu kommunizieren, um in einem Team passende Lösungen zu finden. „Das geht nicht durch Fragebögen, sondern man muss wirklich vor Ort gehen, mit den Leuten sprechen und ihr Handeln beobachten“, sagt der 46-Jährige. Er orientiert bei diesem Entwicklungsprozess an dem Design-Thinking-Ansatz.

Ingenieur und Produktmanager bei namhaften Firmen

Riedel hat Elektrotechnik studiert und war zuletzt zwölf Jahre als Senior-Engineer in der Forschung und Entwicklung bei Sony Deutschland tätig. Davor arbeitete er unter anderem als System-Ingenieur bei Alcatel-SEL, war Resident-Engineer bei Mannesmann VDO und Produktmanager bei Hewlett-Packard. Vor etwa drei Jahren ergab sich die Situation, dass er einen alleinstehenden, älteren Herrn betreuen sollte. Das Problem war: „Der Mann lebte 300 Kilometer entfernt“, berichtet Riedel. Er übernahm die Aufgabe, aber wenn er dort anrief und der ältere Mann nahm den Hörer nicht ab, war er beunruhigt: „Ist etwas passiert?“ Ein klassisches Hausnotrufsystem mit Meldeknopf, Funksender, sowie Arm- oder Halsband lehnte Riedels Schützling strikt ab. Er wolle keine Fremden in der Wohnung haben und überhaupt: „Warum soll ich mich im hohen Alter noch anpassen?“, sagte er. Berechtigte Frage. Der ältere Herr veränderte Riedels Blickwinkel.

Sein Erfindergeist war geweckt. „Die Ausgangsfrage war: Wie müsste eine Technologie aussehen, die sich seinem Bedürfnis anpasst?“ Er entwickelte daraufhin einen kleinen Sensor, der Bewegungsprofile erkennt. Dieser kann so aufgestellt werden, dass er die wichtigsten Bereiche in der Wohnung abdeckt. Es ist ein selbstlernendes System. Innerhalb von einem Monat erkennt es die typischen Bewegungsroutinen des Bewohners.

Die Farbleuchte signalisiert, ob alles wie gewohnt läuft

„Bei meiner Mutter steht das Gerät im Flur“, sagt Riedel. Obwohl auch sie 170 Kilometer entfernt wohnt, kann der Sohn mittels einer ebenfalls von ihm entwickelten Farbleuchte, die bei ihm im Haus steht, sofort erkennen, ob bei seiner 84-jährigen Mutter alles wie gewohnt läuft. Momentan schimmert das Lämpchen in Riedels Küche grün. Wechselt die Farbcodierung der Lampe auf gelb oder rot, kann er daraus eine geringe oder starke Abweichung der üblichen Bewegungsmuster in der weit entfernten elterlichen Wohnung ableiten. Neulich griff er zum Telefon, weil die Farbleuchte gegen Mittag rot war. War sie krank? In diesem Fall war die Sorge unbegründet, aber Anlass für eine nette kleine Plauderei. „Meine Mutter hat mir berichtet, dass sie sich morgens um 10 Uhr wieder ins Bett gelegt hatte, weil ihr Hund mitten in der Nacht unruhig wurde und mehrfach dringend raus musste.“ Den fehlenden Schlaf holten beide dann wieder tagsüber nach. Diese Abweichung der täglichen Routine wurde nach einiger Zeit von dem System erkannt und dem Sohn durch die rote Farbleuchte signalisiert.

Mehr innere Ruhe entwickelt

Durch den Einsatz des Assistenzsystems habe er mehr innere Ruhe entwickelt, sagt Riedel. Das bestätigt auch der Feuerbacher Stadtseniorenrat Hans-Joachim Kientzle. Bei seiner an Demenz leidenden 93-jährigen Tante stand der Sensor zu Testzwecken mehrere Monate in der Küche. Als sie die Zubereitung einer Mahlzeit vergaß, zeigte die Leuchte dies durch Farbwechsel an. „Ich bin dann zu ihr und habe ihr das Abendbrot gemacht“, sagt Kientzle. Das System sei eine Hilfe für ihn, nur eine Sorge habe ihn umgetrieben: „Der kleine Sensor war in den Topf einer grünen Kunstpflanze integriert. Ich habe stets damit gerechnet, dass meine Tante das Plastikpflänzchen bewässert. Keine Ahnung, was dann mit den Sensor passiert wäre“, sagt er schmunzelnd.

Info Matthias Riedel sucht noch Testpersonen für das System. Die Teilnahme ist für Probanden kostenlos. „Jegliche Art von Kommentaren und Beobachtungen sind für uns hilfreich. Nur so können wir uns verbessern“, sagt er. Riedel arbeitet mit einem weiteren Ingenieur und einem Designer zusammen: „Wir wollen dazu beitragen, dass ältere Menschen ihre Selbstständigkeit in den eigenen vier Wänden so lange wie möglich erhalten können.“

Unterstützt wird das Projekt mittels einer Landesförderung von Beratern der Technologie und Innovation für Baden-Württemberg connected (bwcon) und den Senioren der Wirtschaft. „Für das Produkt haben wir uns mittlerweile den Produktnamen „Rica“ ausgedacht. Der Name ist von dem lateinischen Namen Suricata für Erdmännchen abgeleitet. Erdmännchen sind familiäre, soziale Wesen, die Familien und Nachbarn mit ihren Pfiffen vor Gefahren warnen. „Rika warnt die Angehörigen, wenn etwas nicht läuft wie immer“, sagt Riedel. Kontakt und weitere Infos unter 31 53 44 75 oder www.iocare.de.