Im Neckarhafen in Wangen finden Industrie und Romantik zueinander. Zumindest ein bisschen, wie StZ-Kolumnist Erik Raidt auf seiner Expedition rund um Stuttgart feststellt.

Stuttgart - Der Regen rinnt an den Außenwänden der Container herab. Sie liegen übereinander gestapelt wie bunte Schuhkartons im Stuttgarter Hafen. Doch in Wahrheit ist jeder dieser Container nur eine Versandbox mit Standardmaßen – die Container schlucken Waren aus aller Welt: Waschmaschinen, Jeans, Fernseher – all das und vieles mehr kommt am Hafen an oder verlässt diesen wieder. Das Gelände in Wangen und Hedelfingen ist ein Umschlagplatz für den weltweiten Handel. Aus einem finsteren Morgenhimmel fällt Regen, Tausende von Kilometern entfernt bricht der chinesische Aktienmarkt ein, und ich frage mich, inwiefern sich eine solche Krise einmal darauf auswirken könnte, wie viele Container dort am Hafen landen. Die Welt hat sich angeblich in ein Dorf verwandelt, aber der Industriehafen in Wangen funktioniert wie eine Kleinstadt mit ganz eigenen Spielregeln.

 

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!

Viele davon bestimmt Carsten Strähle mit. Strähle ist der Geschäftsführer der Hafen Stuttgart GmbH, sein Büro befindet sich im dritten Stock eines modernen Baus, der am Ufer des Neckars steht. Die Glasfront bietet freien Blick auf den Fluss, auf alte Firmengebäude und neue Werkshallen, er sieht Frachtschiffe und Entenfamilien, Brücken und Kräne. „Klar, wir können hier nicht mit der Romantik des Hamburger Hafens mithalten“, sagt Strähle, „schon allein, weil dort viel größere Schiffe unterwegs sind“. Und auf die Größe kommt es an, nicht nur bei der Romantik, sondern auch beim Geld. Strähle erzählt von den Neckarbrücken, die vor vielen Jahrzehnten gebaut wurden. Die Brücken sind vergleichsweise niedrig. Daher können Schiffe, die auf dem Neckar fahren, nur zwei Container übereinander stapeln, auf dem Rhein sind es vier.

Der Hafenchef muss den Überblick behalten, deshalb steigt er sich selbst aufs Dach. Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Ruth Füller-Mend läuft er über das Flachdach des Verwaltungsbaus. Unter den beiden ein Wimmelbild: Lastwagen fahren über das Gelände, Kräne drehen sich am Ufer, Baggerschaufeln wühlen sich in Berge von Schrott, die später einmal von Stuttgart aus zu Stahlwerken verschifft werden. Carsten Strähle erzählt, dass der Hafen nur ein Drittel des Transports über Frachtschiffe abwickelt und zwei Drittel über die Schiene. Und wer unbedingt am Bild von der Hafenromantik festhalten wolle, der solle sich vorstellen, dass ein Frachtschiff in der Lage sei, die siebzigfache Menge eines Lkws zu transportieren. Welches Bild sei nun romantischer: Am Neckarufer zu sitzen und ein Frachtschiff zu beobachten oder an der Bundesstraße zu hocken und 70 Lastwagen an sich vorbeirollen zu sehen?

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Ich habe genug von der Vogelperspektive, bin zu Fuß auf dem Mittelkai unterwegs, sehe mich von Warnschildern umzingelt, die mich auffordern, die Firmengelände nicht zu betreten. Früher haben sie hier am Hafen mit Kohle eine Menge Kies verdient, heute wird Schrott zu Geld gemacht, weil Schrott kein Müll ist, sondern ein Rohstoff, der an einem anderen Ort wieder verwendet wird. Wenn ich jetzt an Bord eines Frachtschiffs steigen würde, wäre ich 48 Stunden später in Rotterdam. Aber für diese große Freiheit habe ich keine Zeit, ich muss weiter, nicht nach Rotterdam, sondern nach Hedelfingen.