Der Chef der RWE-Tochter Innogy, Fritz Vahrenholt, warnt im StZ-Interview vor Engpässen bei der Stromversorgung in Süddeutschland.

Stuttgart - Bestimmte Produktionsunternehmen könnten sich aus Deutschland verabschieden, weil die Stromversorgung ohne die Atomenergie mittelfristig nicht mehr sicher ist, befürchtet RWE-Mann Vahrenholt.

 

Herr Vahrenholt, seit dem Moratorium sind sieben Kernkraftwerke vom deutschen Stromnetz genommen worden. Passiert ist seitdem nichts. Die Stromversorgung steht.

Ich würde das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Bundesnetzagentur empfiehlt uns, derzeit keine weitere Anlage mehr vom Netz zu nehmen und Revisionen von Kernkraftwerken zu verschieben, damit sie während des Moratoriums Strom erzeugen. Sie bittet uns, keine Stromleitung mehr anzufassen, weil dann das ganze System nicht mehr stabil ist. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung diese Warnungen ernst nimmt. Ich nehme sie sehr ernst. Und die energieintensiven Unternehmen nehmen sie ebenfalls sehr ernst. Sie machen sich große Sorgen, dass der Strom für mehrere Stunden ausfällt. Ein Unternehmer sagte mir kürzlich, dass er seine Kupferherstellung dichtmachen müsse, wenn bei ihm der Strom sechs Stunden lang ausfällt.

Ein Stromausfall von sechs Stunden, steht uns das bevor?

Ob es sechs Stunden sind, weiß ich nicht, aber die stabile deutsche Stromversorgung steht auf dem Spiel. Unsere Kraftwerke stehen nicht an der richtigen Stelle. Das ist der Knackpunkt. Während wir im Westen und Osten einen Überschuss von Kraftwerken haben, klafft in Süddeutschland eine Riesenlücke. Dort sind von heute auf morgen 4500 Megawatt Leistung weggefallen. Und wir können diese Lücke nicht aus anderen Gebieten der Bundesrepublik schließen, weil wir keine ausreichenden Leitungen haben, etwa von Nordrhein-Westfalen nach Baden-Württemberg. Jetzt haben wir Gott sei Dank noch Leitungen nach Frankreich, Tschechien, Österreich und in die Schweiz. Diese Länder füllen uns das Loch. Aber auch diese Leitungen sind bis zum Anschlag ausgelastet.

Warum haben die Energieversorger sich nicht besser darauf vorbereitet? Schon 2000 beschloss die damalige Regierung, aus der Kernenergie auszusteigen, sie konnte ja nicht ahnen, dass das zwischendurch zurückgenommen wird.

Der Kompromiss zum Atomausstieg der damaligen rot-grünen Bundesregierung war eine Sterbetafel der Kernkraftwerke. Danach wäre jedes Jahr ein anderes Kraftwerk vom Netz gegangen. In dieser Zeit hätten wir ausreichend Gas-und Kohlekraftwerke bauen können, um die fehlende Leistung zu ersetzen. Darauf haben wir uns eingestellt. Die jetzige Situation ist völlig anders. Nun sind innerhalb von vier Tagen schlagartig acht Anlagen heruntergefahren worden, und wir sollen von heute auf morgen darauf reagieren.

Das heißt, wenn die jetzige Bundesregierung zum Atomkompromiss aus dem Jahr 2000 zurückkehren würde, wäre das für Sie akzeptabel?

Es geht nicht um akzeptabel. Wir folgen dem Primat der Politik. Wir haben uns an die Entscheidung aus dem Jahr 2000 gehalten, und dann gab es eine andere Entscheidung im Jahr 2010 nach einem Wahlkampf der jetzigen Regierung, der ganz klar adressiert hat, wir wollen den Ausstieg zurücknehmen. Auch an die Entscheidung von 2010 haben wir uns gehalten. Jetzt wird uns auf einmal vorgeworfen, vertragsbrüchig geworden zu sein. An welchen Souverän soll ich mich denn halten, an den von heute oder den von vor zehn Jahren? Wenn sich die Bundesregierung jetzt wieder für einen Ausstieg entscheidet, finde ich das auch in Ordnung. Dann muss aber ein Atomgesetz her, dann muss es dazu eine Beratung geben und eine parlamentarische Debatte, dann muss der Bundesrat einbezogen werden. Es ist ja üblich, dass man die Betroffenen mal anhört, bevor man Dinge entscheidet. Das ist nicht passiert. Das Moratorium wurde per Presseerklärung der Kanzlerin mitgeteilt.

Was hätten Sie der Kanzlerin denn gesagt, wenn Sie gefragt worden wären?

Wir müssen den Bürgern und der Industrie sagen, was sie erwartet. Es könnte sein, dass sich am Ende bestimmte Produktionsunternehmen aus Deutschland verabschieden, weil die Stromversorgung nicht mehr sicher ist. Zurzeit haben wir mit 0,05 Prozent die geringste Stromausfallrate auf der Welt. Aber wir könnten italienische Verhältnisse bekommen, wenn wir schneller als geplant aus der Atomenergie aussteigen. Dort liegt die Ausfallquote bei fünf Prozent. Das kann man wollen, aber das sollte die Bevölkerung wissen. Wir müssen den Menschen die Wahrheit sagen. Wer sagt, dass wir das schon alles mit Wind und Sonne hinkriegen, der führt die Menschen in die Irre.

Vahrenholt über die Wettbewerbsfähigkeit erneuerbarer Energien

Warum geht es nicht mit Wind und Sonne?

Es gibt Zeiten, in denen die Sonne nicht scheint und der Wind nicht bläst. Bei der Sonne sind das 90 Prozent des Jahres, beim Wind 70 bis 75 Prozent eines Jahres. Ich finde es ja schön, dass auch Bayern und Baden-Württemberg nun verstärkt auf Windkraft setzen. Ob das volkswirtschaftlich vernünftig ist, ist eine andere Sache, weil der Wind dort einfach 30 bis 50 Prozent weniger stark weht. Das wird nicht reichen, denn auch in Baden-Württemberg muss die Energieversorgung sicher sein, wenn der Wind nicht weht, und das sind dort immerhin 6500 Stunden im Jahr.

2020 sollen 20 Prozent des europäischen Bedarfs aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Wie soll das erreicht werden?

Das Erste, was es zu hinterfragen gilt, ist das Datum 2020. Warum hat die Politik das Jahr 2020 ausgewählt? Weil es eine runde Zahl ist? Sollte man nicht sagen, wir wollen aus der Kernenergie aussteigen, und wenn es dann 2022 oder 2018 ist, dann ist das eben so. Nein, wir verfahren nach dem Motto: Das schaffen wir schon, es wird schon gutgehen. Und damit überfordern wir die erneuerbaren Energien. Die Gefahr ist groß, dass die Menschen irgendwann sagen: Ach du Schande, was haben wir uns da eigentlich eingebrockt? Es ist dreimal so teuer geworden, die Versorgungssicherheit ist deutlich geringer, und viele industrielle Arbeitsplätze werden verschwinden. Deswegen muss man doch einen Weg finden und gehen, der dazu führt, dass die erneuerbaren Energien ausgebaut werden, aber der Wohlstand und die Stabilität des Stromsystems nicht gefährdet werden.

Wie sieht dieser Weg aus?

Ich sage, wir können 2050 rund 50 Prozent der Energie auf erneuerbare Quellen umstellen. Das ist machbar und vernünftig, denn dann ist das System robust und stabil. Und dafür werden wir am Ende auch wirklich als Modell gelten, das in der Welt Vorbildcharakter haben wird. Dann gibt es in Deutschland immer noch Industrie, und wir werden den größten Anteil an erneuerbaren Energien haben. Was die übrigen 50 Prozent angeht, da bin ich sehr dafür, dass wir das mit Gaskraftwerken und mit Kohlekraftwerken machen, bei denen das CO2 abgeschieden wird. Die Kernenergie ist selbst in der langen Brücke der aktuellen Regierung dann auch schon weg.

Wie teuer wird das für den Verbraucher?

Die erneuerbaren Energien sind noch nicht wettbewerbsfähig. Strom, der in Windanlagen auf hoher See produziert wird, kostet 15 Cent pro Kilowattstunde, und wir werden ihn auch auf lange Sicht trotz aller Bemühungen nicht unter zehn Cent drücken können. Das heißt, er ist doppelt so teuer wie der Preis, zu dem an der Strombörse gehandelt wird. Über Fotovoltaik brauchen wir gar nicht zu reden, der Preis für den Sonnenstrom ist 500 Prozent teurer als an der Börse. Dabei spreche ich noch nicht von den Kosten der Speicherung oder von Ersatzkraftwerken. Wenn wir den Ausbau der erneuerbaren Energien ernst nehmen, wird der Strompreis steigen. Aber der Verbraucher akzeptiert das. Wenn der reine Strompreis ohne Steuern und Abgaben von fünf auf 7,5 Eurocent hochgehen würde bis zum Jahr 2020 - davon geht die Deutsche Energieagentur aus -, dann ist das für den Bürger verkraftbar. Aber es stellt sich die Frage, ob die Industrie das verkraftet. Immerhin gehen zwei Drittel des erzeugten Stroms in Deutschland in Industrie und Gewerbe. Die Unternehmen, bei denen der Strompreis ein Drittel der gesamten Produktionskosten ausmacht, sagen, wenn der Preis für eine Kilowattstunde von fünf Cent auf 7,5 Cent steigt, sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig. Ich befürchte, dass wir am Ende Strom einsparen, weil sich ein Teil der Industrie aus Deutschland verabschiedet hat.

Malen Sie nicht zu schwarz?

Nein, ganz und gar nicht. Um trotz erneuerbarer Energien ein stabiles Versorgungssystem garantieren zu können, was für die Industrie unerlässlich ist, brauchen wir laut der Deutschen Energieagentur 3400 Kilometer neue Leitungen und zusätzlich noch Speicher. Beides sehe ich bis 2020 nicht. Die Planungs- und Bauzeit von Projekten beträgt mindestens zehn Jahre. Und überall regt sich der Widerstand. Wenn wir aber unser Energiesystem so ehrgeizig ändern wollen, können wir nicht immer fragen: Wer hat etwas dagegen? Natürlich müssen wir den Bürger informieren und einbeziehen. Aber irgendwann muss auch entschieden werden. Und daran hakt es auch in der Politik derzeit gewaltig. Wir brauchen mehr Stehvermögen und Führung von Politikern. Sonst wird es in Teilen Deutschlands, vor allem im Süden, zu einer Unterversorgung mit Strom kommen. Um Blackouts zu vermeiden, müssen dann vielleicht Industriebetriebe abgeschaltet werden.

Der Mann für die erneuerbaren Energien bei RWE

RWE: Innogy Seit Februar 2008 ist Fritz Vahrenholt Vorstandschef der RWE-Tochter Innogy, in der die Kraftwerke des Konzerns im Bereich der erneuerbaren Energien gebündelt sind. Die Innogy engagiert sich bei Windkraftprojekten auf hoher See und an Land und hat Wasserkraftwerke und Biomasseanlagen. Unternehmer Zuvor war Vahrenholt an der Spitze des Windanlagenspezialisten Repower AG in Hamburg und arbeitete im Vorstand der Deutschen Shell AG. Der promovierte Chemiker war 2001 bis 2007 Mitglied des Rats für nachhaltige Entwicklung unter Kanzler Gerhard Schröder und Kanzlerin Angela Merkel.

Politiker: Der 62-Jährige führte außerdem die Abteilung für Umweltpolitik, Abfallwirtschaft und Immissionsschutz im Hessischen Umweltministerium und wurde Staatsrat in der Umweltbehörde Hamburgs. Von 1991 bis 1997 war Vahrenholt Senator und Präses der Umweltbehörde Hamburgs.