Zwei Jahrzehnte nach ihrer Flucht fühlen sich die Alhans und die Abdics mittlerweile in Böblingen und Sindelfingen heimisch. Deutsche Staatsbürger sind sie schon lange.

Böblingen/Sindelfingen - Fast ein Vierteljahrhundert ist es her, dass Adisa Abdic ihre Heimat Bosnien verlassen musste. Der Krieg auf dem Balkan zwang ihre Familie zur Flucht. Noch heute schießen ihr Tränen in die Augen, wenn sie davon berichten soll. „Es war hart, alles hinter mir zu lassen. Am schwierigsten war es, meine Großmutter zu verlassen. Bei ihr bin ich aufgewachsen.“ Mehr möchte sie nicht erzählen. 15 Jahre jung war Adisa Abdic, als sie in einem fremden Land von vorne beginnen musste. Von Anfang war ihr klar, „dass ich ganz schnell die Sprache lernen muss“.

 

24 Jahre später sitzt die Frau mit dem blonden Pagenkopf auf dem Sofa ihrer Eigentumswohnung in Sindelfingen. Ihr Deutsch ist nahezu perfekt. Nur ein ganz leichter Akzent, der sich aber nicht spontan einer bestimmten Herkunft zuordnen lässt, ist zu hören. Bosnien ist nur dezent präsent in der Wohnung. Über dem Sofa hängt ein Gemälde mit einer Ansicht aus ihrer Heimatstadt Bihac. Ein weiteres Bild einer Moschee schmückt eine andere Wand. Es ist der einzige Hinweis auf die Religion der Familie. „Mein Glaube ist mir wichtig. Ich faste im Ramadan, und meine Kinder haben in der Moschee den Koranunterricht besucht.“

Apothekenhelferin und Altenpflegerin

Als „deutsche Muslima“ bezeichnet sich Adisa Abdic selbstbewusst. Nur einmal habe sie sich wegen ihrer Religion diskriminiert gefühlt. „Als ich auf Stellensuche war, fragte mich ein Apotheker, ob ich Muslima sei.“ Die Stelle als Apothekenhelferin habe sie dann nicht bekommen. Bei ihrer jetzigen Arbeit spielt die Religion keine Rolle. Zur Altenpflegerin sattelt die 39-Jährige zurzeit um. Im Böblinger Haus am Maienplatz absolviert sie den praktischen Teil ihrer Ausbildung, in Leonberg besucht sie die Schule der Evangelischen Heimstiftung, nebenbei arbeitet sie noch im Sindelfinger Rot-Kreuz-Heim. „Die Arbeit mit den alten Menschen gefällt mir. Es ist schön, wenn man helfen kann“, sagt Abdic.

Helfen – das ist auch Programm bei der Familie Alhan in Böblingen. Um mehrere kurdische Flüchtlingsfamilien aus Syrien kümmert sie sich. „Ich begleite die Frauen zum Arzt. Wir bringen ihnen Kleidung, laden die Leute zu uns ein“, sagt Naciye Alhan. Die 43-Jährige weiß genau, wie wichtig es ist, am Anfang in der Fremde Unterstützung zu bekommen. 1992 floh sie selbst mit ihrem Mann Kadri und der drei Monate alten Tochter Dilnaz vor der Verfolgung der Kurden in der Türkei nach Deutschland. Wenn sie jetzt die Bilder der Flüchtlinge im Fernsehen sieht, steht ihr die eigene dramatische Fluch wieder vor Augen. „Schlepper haben uns mit Lastwagen, Bussen und zu Fuß durch den Wald nach Deutschland gebracht.“ Zwei Wochen waren sie unterwegs, tagelang ohne jede Nahrung. „Ich hatte keine Milch mehr, konnte mein Baby nicht stillen“, erzählt Naciye Alhan. „Als wir im Karlsruher Lager ankamen, war Dilnaz ganz ausgetrocknet.“

Vier Jahre Arbeitsverbot

In Deutschland fühlte sich das junge Ehepaar wie im Paradies. „Ein Arzt kümmerte sich um unser Baby. In Böblingen bekamen wir eine Wohnung in einem Container, Geschirr, Kleidung, Essen.“ Vier Jahre dauerte es, bis die Alhans als Asylberechtigte anerkannt waren. Solange galt für sie Arbeitsverbot. Sechs Wochen durfte Kadri Alhan einen Deutschkurs besuchen, seine Frau nicht. „Wir waren jung, 20 Jahre alt, und hätten gerne eine Ausbildung gemacht. Doch das war verboten“, bedauert Kadri Alhan, der seit 13 Jahren als Arbeiter des gemeinsamen Bauhofs der Städte Böblingen und Sindelfingen arbeitet.

Um so mehr ermuntert er nun seine sieben Kinder, ihre Chancen zu nutzen. Und diese lassen keine aus. Die älteste, die 23 Jahre alte Dilnaz, studiert Jura, Yusuf, der zweite, Maschinenbau, die 18 Jahre alte Zilan steht vor dem Abitur. Die Alhan-Kinder engagieren sich im Böblinger Jugendgemeinderat und als Schülersprecher, als Hausaufgabenbetreuer und Sporttrainer.

Alle haben einen deutschen Pass

„Schaut meine Kinder an. Sie sind alle gut in der Schule, sie sind fleißig, machen keinen Ärger“, sagt Kadri Alhan stolz. Sie müssten sich mehr anstrengen als ihre deutschen Altersgenossen, ist er überzeugt. Und dies gelte für die meisten Flüchtlinge, die es nach Deutschland schaffen. „Deshalb brauchen die Deutschen keine Angst vor ihnen zu haben.“ Zu den Deutschen zählen die Alhans mittlerweile selbst, vor Jahren wurden sie eingebürgert.

Einen deutschen Pass hat auch Adisa Abdic schon lange. Und er bedeutet ihr mehr als nur ein Papier, das ihr den Alltag leichter macht. Widerwillig und unter Tränen war sie 1991 nach Deutschland gekommen. 24 Jahre später sagt sie: „Ich bin mehr Deutsche als Bosnierin.“