Die Stuttgarter Rosensteinschule gilt als „Brennpunktschule“. Viele Flüchtlingskinder werden hier auf die schulische Laufbahn vorbereitet und in die Klassen integriert. Der Schule gelingt dies vorbildlich – ganz pragmatisch und frei von Helferromantik.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Auf den ersten Blick hat die Rosensteinschule nichts Einladendes. Der schlichte Zweckbau aus den 1950ern Jahren gibt mit den benachbarten kasernenhaften Mietshäusern des Stuttgarter Nordbahnhofviertels ein doch eher freudloses Gesamtbild ab. Doch hinter der tristen Fassade verbirgt sich Besonderes. Da wäre zunächst einmal der stilvolle Holz-Beton-Erweiterungsbau im Innenhof der Rosensteinschule, der 2014 mit einem Architekturpreis bedacht wurde.

 

Die vielen weiteren Auszeichnungen für die Grund- und Werkrealschule sind an der Wand vor dem Rektorat zu begutachten. Dort tauchen immer wieder die Wörter „vorbildlich“ und „Konzept“ auf. „Aber jetzt ist auch mal gut mit den Preisen. Aus dem Außergewöhnlichen ist inzwischen Alltag geworden“, sagt die Schulleiterin Ingrid Macher. Alltag in der Rosensteinschule heißt: die schulische Integration von Flüchtlingskindern – und zwar im großen Stil. In so einem Fall wird dann oft von „Brennpunktschule“ gesprochen. „Hier brennt es nicht, jedenfalls nicht lang“, sagt Ingrid Macher, die so etwas wie einen pädagogischen Löschzug anführt.

Die Rektorin weiß, was machbar ist und was nicht

Die politische Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen wird seit Jahren von Leuten bestimmt, die in der Regel nicht direkt mit Flüchtlingen zu tun haben. Ingrid Macher wiederum weiß aus der täglichen Arbeit genau, was machbar ist und was nicht. „Mit den Flüchtlingen haben wir einen pädagogischen Auftrag erhalten. Es ist eine Notwendigkeit und unsere Pflicht, diesen zu erfüllen.“ Wenn die Rektorin über die Integration von Flüchtlingen redet, dann schwingt da keine Helferromantik mit, dafür ganz viel Pragmatismus.

Ingrid Macher ist eine zierliche Frau und eine sehr resolute. Sie möchte zum Beispiel nicht, dass ein Foto von ihr für die Zeitung gemacht wird. Da hakt man normalerweise nach – mit den Worten: wäre doch schön, meinen Sie nicht, vielleicht doch? Bei Ingrid Macher kommt man erst gar nicht auf die Idee, in eine derartige Diskussion einzusteigen. Nein heißt bei ihr auch nein. Ingrid Macher will sich auch nicht zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung äußern. Für sie und ihre Kolleginnen und Kollegen ist entscheidend, mit den Auswirkungen zurechtzukommen und sich der Situation zu stellen.

Die Schule schreckt nicht davor zurück, selbst Schüler rauszuwerfen

2015 brach die Flüchtlingswelle auch über die Rosensteinschule herein. Schließlich waren gleich drei entsprechende Unterkünfte im Einzugsgebiet entstanden. Diese Extremsituation musste genauso gemanagt werden wie die Auswirkungen einer forcierten Abschiebepolitik zwei Jahre später. Zuletzt erhielt die Familie eines 15-jährigen Rosensteinschülers aus dem Kosovo die Ausreiseaufforderung. Weil der Junge unmittelbar vor der Hauptschulprüfung steht und auch schon einen Ausbildungsvertrag in der Tasche hat, bittet die Schule jetzt schriftlich um die Aussetzung der Abschiebung.

Auf der anderen Seite schreckt die Rosensteinschule aber auch nicht davor zurück, selbst einen Schüler rauszuwerfen. Wenn die Integration an unüberwindbare Grenzen stößt. So musste ein Jugendlicher die Schule verlassen, nachdem er eine Lehrerin beleidigt und ihr gedroht hatte.

Es gibt sechs Vorbereitungsklassen

In Stuttgart sind zurzeit rund 1000 Flüchtlingskinder in 118 sogenannte Internationale Vorbereitungsklassen aufgeteilt. Sechs dieser Klassen gibt es an der Rosensteinschule. So viele werden es dort auch im kommenden Schuljahr wieder sein. Das Ziel ist es, die neu angekommenen Kinder und Jugendlichen aus den Flüchtlingsunterkünften in einem Jahr beziehungsweise in zwei Jahren schulisch so fit zu machen, dass sie sich danach in einer Regelklasse der Rosensteinschule zurechtfinden. Im Optimalfall schließen sie mit der mittleren Reife ab. Die aktuell 250 Flüchtlingskinder in den Vorbereitungs- und Regelklassen bewirken, dass in der Nordbahnhofstraße mittlerweile 97 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben. 550 Kinder und Jugendliche gehen hier insgesamt in eine Schule, die darauf vorbereitet ist, mit fehlenden Deutschkenntnissen umzugehen. Elterngespräche müssen oft mit Dolmetscher stattfinden.

Und bei dieser Gelegenheit bekommt Ingrid Macher auch zu hören, dass Eltern – vor allem aus arabischen Ländern – die Schule zur Prügelstrafe für die eigenen Kinder auffordern, wenn die sich nicht angemessen verhalten würden. In diesen Momenten werden die kulturellen Unterschiede dann besonders deutlich. An der Rosensteinschule müssen sie überbrückt werden – in vielen Gesprächen.

Das Kultusministerium will bald Zahlen und Ergebnisse anfordern

Im vergangenen Jahr haben die ersten Rosensteinschüler aus den Vorbereitungsklassen die Prüfung zur mittleren Reife gemacht. Alle, die angemeldet waren, haben bestanden. Das Kultusministerium will bald Abschlusszahlen und Ergebnisse bei den jeweiligen Schulen anfordern, um sich ein Bild von der Entwicklung dieses Projekts machen zu können.

„Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie viel Uhr es ist?“, fragt eine Schülerin. „Sehr gut“, antwortet die Lehrerin. Im Unterricht von Fatma Pekbey geht es heute um verschiedene Formen der Anrede. Fatma Pekbey bringt den Jugendlichen zwischen 13 und 15 Jahren die deutschen Wörter bei, redet über den Unterschied von Duzen und Siezen und erklärt dabei Begriffe wie Höflichkeit und Respekt. Damit werden neben Wertschätzung, Toleranz und Akzeptanz zwei weitere wichtige Grundbegriffe der Rosensteinschule angesprochen. Und die funktioniert bei aller Unterschiedlichkeit der Schüler, die aus über 40 verschiedenen Ländern stammen, nach einer einheitlichen Linie. Deshalb müssen die Regeln von allen Lehrern gleich umgesetzt werden. Wenn sich ein Schüler daneben benimmt, geht es für ihn in einen eigens eingerichteten Trainingsraum. Hier sollen die Schüler in Ruhe ihr Verhalten reflektieren und mit den Lehrern Verträge abschließen, damit das Verhalten besser wird. Es gibt auch ein Benimm-Training und die Aufforderung nach einer „angemessenen Kleidung“.

„Kinder, die unser Schulsystem durchlaufen, können es schaffen“

Zur sozialwirksamen Schule, wie es im Pädagogendeutsch heißt, gehört aber auch eine Schulversammlung, in der die Schüler die Lehrer kritisieren dürfen. Lob gibt es von der Schulleiterin für ihre Kollegen, die in den Vorbereitungsklassen unterrichten. „Ich bin stolz auf sie“, sagt Ingrid Macher. Die Lehrer wiederum sagen, dass sie eine befriedigende Aufgabe haben. Wo würde man schon schneller Fortschritte erleben als in einer Vorbereitungsklasse? „Kinder, die unser Schulsystem durchlaufen, können es schaffen“, sagt Ingrid Macher. Und so lautet die Regel: „Je früher sie bei uns sind, desto besser.“

Um die wenigen traumatisierten Kinder, die in die Rosensteinschule kommen, kümmert sich eine Schulpsychologin. Ein Ausnahmefall wird der Rektorin immer in Erinnerung bleiben. Ein Junge, der die Erschießung seiner Eltern miterleben musste, erlitt in der Schule einen Krampfanfall und beruhigte sich erst wieder, als sich der Hund von Ingrid Macher zu ihm legte.

Es lohnt sich, wenn man sieht, was entstehen kann

Neben den Urkunden ist am Schwarzen Brett auch das Logo der Rosensteinschule zu sehen. Eine in sich verschlungene Rose. Eine Einladung zur Bildinterpretation, in der Art: Es ist kein gerader und manchmal auch ein dornenreicher Weg, den die Flüchtlingsschüler und ihre Lehrer hier zu gehen haben. Aber es lohnt sich, wenn man sieht, was entstehen kann. Eine vielleicht etwas zu blumige Beschreibung einer Schule, die mitten im Leben steht.