In der Geburtsurkunde muss von 1. November an das Geschlecht nicht mehr zwingend festgeschrieben werden. Für Intersexuelle ist das nur ein kleiner Schritt hin zu mehr Normalität. Vor allem Ärzte und Psychotherapeuten sind gefordert, Vorurteile abzubauen.

Stuttgart - Das Baby kam mit einem Genital zur Welt, das uneindeutig war – nicht Junge, nicht ganz Mädchen. Im Bauchraum wurden Hoden vorgefunden. Der Chromosomensatz war männlich. Die Ärzte haben ein Mädchen daraus gemacht. Sie haben das Baby, das wegen eines Herzfehlers im Krankenhaus bleiben musste, im Alter von zweieinhalb Monaten kastriert, ohne Einwilligung der Eltern. Das war 1965. Die Ärzte logen die Eltern an, behaupteten, sie hätten die missgestalteten Eierstöcke entfernen müssen, obwohl das Kind nie Eierstöcke hatte. Die Mediziner wiesen die Eltern an, wie sie zu erziehen hätten: „Das Kind ist ein Mädchen und wird es bleiben, die ganze Erziehung hat sich danach zu richten.“ 1972 korrigierten die Chirurgen das Genital des Kindes nach ihren Vorstellungen.

 

Über lange Zeit wurde eine „contrachromosomale Hormonersatztherapie“ durchgeführt. Gelenkschmerzen, Schwindel, Hitzewallungen und Osteoporose waren die Folge. Die Psychoanalyse des Patienten dauerte sieben Jahre – und die Erkenntnis lautet: „Ich bin weder Mann noch Frau, aber vor allem bin ich auch kein Zwitter mehr. Ich bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt. Ich muss mich neu erfinden, wenn ich weiterleben will.“

Die Empfehlung des Ethikrates

In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats für den Bundestag aus dem Jahr 2012 wird genau dieser Fall geschildert. Denn Schicksale wie dieses hatten den Ethikrat damals veranlasst, mehrere Gesetzesänderungen zu Gunsten von intersexuellen Menschen zu empfehlen. Eine dieser Änderungen tritt am 1. November in Kraft: Im amtlichen Geburtenregister darf künftig auf die Angabe „männlich“ oder „weiblich“ verzichtet werden, wenn das Geschlecht eines Babys nicht eindeutig ist. Die Betroffenen können später auch ihren Personenstand und damit zugleich ihren Vornamen leichter ändern als bisher.Intersexuelle sind Menschen, die aufgrund von körperlichen Besonderheiten nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind – unter anderem auch, weil das durch die Chromosomen festgelegte genetische Geschlecht nicht mit den sichtbaren Geschlechtsmerkmalen übereinstimmt. Zu den Intersexuellen zählen auch Frauen, bei denen es wegen hormoneller Störungen zu einer Vermännlichung der Geschlechtsorgane kommt.

Von den Intersexuellen zu unterscheiden sind transsexuelle Menschen, deren biologisches Geschlecht eindeutig ist, die sich aber psychisch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen und sich deshalb oft für medizinische Eingriffe entscheiden. Im Anschluss können diese schon seit Langem ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister ändern lassen.

Intersexuelle werden bis heute diskriminiert

Wie viele Intersexuelle in Deutschland leben, ist umstritten. Es gibt keine offizielle Statistik – wahrscheinlich dürften die Schätzungen von 80 000 bis 120 000 sein. Intersexuelle werden bis heute diskriminiert. In der medizinischen Fachwelt galt Intersexualität lange als behandlungsbedürftige sexuelle Störung unter dem Fachterminus „Disorders of Sex Development“ (DSD). Heute spricht man neutral von „Differences of Sex Development“ – Unterschiede der sexuellen Entwicklung. Die Betroffenen selbst verweisen darauf, dass sie nicht krank sind.

Die Änderung des Personenstandsrechts ist nur ein kleiner Schritt hin zu mehr Normalität. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Gesetzesänderung zwar mit großer Mehrheit beschlossen wurde, aber fast ohne Diskussion und faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Gesetzesvorhaben versteckt wurde, das ansonsten rein bürokratische Ziele verfolgte. Angestoßen wurde diese Entwicklung übrigens nicht in Deutschland selbst, sondern von den UN, die von der Bundesregierung Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte von Intersexuellen gefordert hatten.

Operationen nur in Ausnahmefällen

Viel wichtiger als das Personenstandsrecht sind die Empfehlungen, die der Ethikrat zur medizinischen Behandlung gegeben hat. Operationen an Kindern soll es nur noch in Ausnahmefällen geben. Über „irreversible medizinische Maßnahmen“ sollen grundsätzlich nur noch die Betroffenen selbst entscheiden – wenn sie volljährig sind. Operationen an Kindern sollen nur bei Lebensgefahr erlaubt sein oder bei einer schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit. Auch in diesen Fällen sollten „ältere“ Kinder gehört werden. Denn es sei das höchstpersönliche Recht der Betroffenen, über ihre geschlechtliche und sexuelle Identität zu entscheiden. Dazu zähle das „Recht auf Fortpflanzungsfreiheit“, das operative Eingriffe nehmen können. Das alles sind eigentlich Selbstverständlichkeiten. Nur dort, wo noch Vorurteile existieren, bedarf es eines Ethikrats, um dies so festzuschreiben. Das Gremium empfiehlt darüber hinaus die Fortbildung von Ärzten, Hebammen und Psychotherapeuten sowie Kompetenzzentren, die eine vernünftige Beratung und gegebenenfalls Behandlung ermöglichen.

Falsche Vorstellungen vom richtigen Geschlecht

Damit sich Schicksale nicht wiederholen wie das eines Agraringenieurs, der, 1957 geboren, als Mädchen erzogen wurde. Seit seinem 16. Lebensjahr wurden ihm 32 Jahre lang Östrogenpräparate verschrieben, wie sie sonst Frauen nach den Wechseljahren erhalten. Seine Liebesbeziehungen scheiterten. 2000 wurde ihm eröffnet, dass er wegen seiner Stoffwechselwerte noch fünf Jahre zu leben habe. Die Psychologin sagte: „Sie haben viele gesunde Anteile, Sie sind eine ganz normale Frau.“ Heute ist er schwerbehindert, aber es geht ihm besser, seit er männliche Hormone erhält und für sich akzeptiert hat, „dass ich kerngeschlechtlich eher keine Frau bin“. Seine Erkenntnis: All die Probleme lagen „zu keinem Zeitpunkt in meiner eigenen Person“. Sie waren Folgen der Östrogene sowie der „falschen gesellschaftlichen, rechtlichen, psychologischen und medizinischen Vorstellungen von den beiden ‚richtigen’ Geschlechtern“.