Im Vorfeld Ihrer Intendanz haben Sie mit der noch in Berlin gemachten Bemerkung, es sei Ihnen keine Stadt fremder als Stuttgart, für Irritationen gesorgt. Ich habe den Eindruck, dass Sie diese Fremdheit nie überwunden haben.
Das Gefühl habe ich nicht. Wie gesagt: ich fühle mich sehr wohl in dieser Stadt. Wir haben viele Partner gewonnen, mit denen wir kontinuierlich zusammenarbeiten. Dazu gehört das Kunstmuseum, die Kunstakademie, die Schauspielschule, die Universität, das Literaturhaus . . . Das dürfte auch Ihnen nicht entgangen sein.
Ist es auch nicht. Und mir ist auch nicht entgangen, dass sie 2013 mit dem Anspruch angetreten sind, regionale und lokale Stoffe auf die Bühne zu bringen.
Wir haben diesen Anspruch in unserer ersten Spielzeit programmatisch verankert und nennen ihn „Spurensuche“. Und wir lösen den Anspruch auch ein: beispielsweise mit „Pfisters Mühle“, das Wilhelm Raabe in Stuttgart geschrieben hat, oder mit dem im Schwarzwald spielenden den „Kalten Herz“ von Wilhelm Hauff oder – in der aktuellen Spielzeit – mit den „Ehen in Philippsburg“ von Martin Walser, ein Porträt des Aufbruchs im Stuttgart der fünfziger Jahre. Auch diese Liste ließe sich weiter fortsetzen.
Aber warum haben diese auf die Stadt bezogenen Themen nie die Dringlichkeit erreicht, die sie unter Ihrem Vorgänger Hasko Weber hatten?
Zur Ästhetik unter meinem Vorgänger kann ich mich nicht äußern. Ich kann nur sagen: Wir sind vor vier Jahren von der Politik geholt worden, um neue Ästhetiken auszuprobieren. Und das machen wir auch. Aber wenn Sie auf das Gesamtprogramm schauen, merken Sie, dass diese ästhetischen Innovationen nur einen Teil unseres Angebots ausmachen. Wir bieten daneben auch Schauspielertheater, denken Sie an „Szenen einer Ehe“ oder „Herbstsonate“, beides in der Regie von Jan Bosse, oder an „August: Osage County“, das Stephan Kimmig inszeniert hat. Beide, Bosse und Kimmig, werden auch in dieser Spielzeit wieder hier arbeiten, Kimmig übrigens bei den erwähnten „Ehen in Philippsburg“. Und in der kommenden Spielzeit freuen wir uns sehr auf Claus Peymann, der in Stuttgart eine Theaterlegende ist und „King Lear“ auf die Bühne bringen wird. Inszenierungen dieser Art zählen gewiss nicht zum hochexperimentellen Teil unseres Angebots. Aber dass es diese experimentellen, avantgardistischen Inszenierungen gibt und geben wird, bis zum Ende meiner Intendanz, das ist klar.
Das finde auch ich richtig. Allerdings schließt diese grundsätzliche Zustimmung nicht aus, dass man einzelne dieser Arbeiten für misslungen hält.
Misslungen? Das liegt im Auge des Betrachters. Ich würde fragwürdig – im positiven Sinne – sagen, wie überhaupt alles, was im Theater geschieht, fragwürdig sein muss. Jeder Abend muss ein Experiment sein, sonst ist er nicht gültig. Er muss offene Auseinandersetzungen und Überraschungen bieten, er muss die Zuschauer erfreuen und beglücken, aber auch verunsichern und schocken – das ist meine Aufgabe als Regisseur.
Aber zum Problem werden solche Abende doch, wenn sie künstlerisch floppen.
Das sagen Sie: künstlerisch floppen. Wir haben zum Auftakt dieser Spielzeit vier Premieren gehabt, davon sind drei zu über neunzig Prozent ausverkauft. Nur „Lolita“ läuft nicht so toll, was nicht zuletzt an Ihrem Verriss liegt, aber gewiss nicht an dem, was auf der Bühne passiert. Die Zuschauer sind zum großen Teil begeistert – und natürlich ist Christopher Rüping, der die „Lolita“ inszeniert hat, ein avantgardistischer Regisseur, der selbst mich mit manchen seiner Regie-Wendungen irritiert. Aber dafür werde ich bezahlt: dass ich mit dem Schauspiel den nächsten Schritt gehe. In dieser Stadt gibt es verschiedene Theater mit den unterschiedlichsten ästhetischen Handschriften. Und das ist gut so.