In „London NW“ tut die Jamaikanerin/Nigerianerin Natalie alles, um dem Sozialbautenmief ihrer Kindheit zu entkommen, während die Engländerin/Irin Leah wie ein Luftballon durchs Leben treibt. Wollten Sie selber weg aus Willesden?
Nein. Ich wollte lernen und Bücher lesen . . .
 . . . und haben es damit nach Cambridge und Harvard geschafft  . . .
. . . aber es ist trotzdem ein Irrtum anzunehmen, dass alle Leute aus der Arbeiterschicht den Aufstieg in die Mittelschicht anstreben. Gäbe es anständige Schulen, eine vernünftige Gesundheitsfürsorge und eine funktionierende Infrastruktur, könnte das Leben am unteren Ende der sozialen Leiter sehr lebenswert sein. Ist Ihnen – umgekehrt – schon einmal aufgefallen, wie ängstlich die Leute werden, sobald sie ein bisschen Geld haben? Meiner Erfahrung nach leben Angehörige der Mittel- und der oberen Mittelschicht in panischer Angst davor, aus ihrem Paradies vertrieben zu werden. Und diese Angst übertragen sie auf alles und jeden, auf unsichtbare Krankheitserreger, auf das Essen, auf ihre Kinder. Und das macht unglücklich.
Man wolle seinen Kindern die „allerbesten Möglichkeiten geben“, sagt ein Gast auf einer Dinnerparty, zu der die erfolgreiche Anwältin Natalie Leah gelegentlich einlädt. Was sind denn „allerbeste Möglichkeiten“?
Genau: Was ist Erfolg? Ich habe mein Leben nie als etwas aufgefasst, das in eine bestimmte Richtung geht. Ich meine, es geht bestimmt in eine Richtung, nämlich Richtung Grab. Es überraschte mich, als meine Freunde und Bekannten mit Mitte zwanzig anfingen, das Leben als eine Art Rennen zu betrachten, als eine Reihe von zu erreichenden Zielen. Wenn ich erst das Auto und das Haus und die Familie habe, dann werde ich endlich glücklich sein. Jetzt wundern sie sich darüber, dass sie nicht glücklich sind. Stattdessen kämpfen sie jeden Tag verzweifelt darum, den Status quo zu bewahren. All die radikalen Kids, die nächtelang durchgetanzt, Drogen probiert und gegen die Regierung protestiert haben, sind völlig verspießert.
Passiert das nicht jeder Generation?
Ja. Aber meine Generation scheint sich in einem permanenten Schockzustand darüber zu befinden. Neulich wurde ich zu „Baby Loves Disco“ eingeladen. Das ist ein Rave für Eltern und ihre Kinder, der tagsüber in einem Nachtclub stattfindet. Als wären wir immer noch 26 und als sei das ganze Spießertum nur Fassade. Dabei werden alle von dem unglaublichen Bedürfnis nach bürgerlichen Idealen getrieben.
Nach dem Ideal der perfekten Familie zum Beispiel: Leah will keine Kinder, Natalie hat zwei. Weshalb fühlt sich keine der beiden ihrer Situation gewachsen?
Ob man Kinder hat oder nicht, ist zu einer Frage des Lebensstils geworden. Vor hundert Jahren wurde nicht darüber diskutierte, ob man für Kinder bereit sei, ob der richtige Frühkindergarten in der Nähe und das nötige Biogemüse vorhanden sind. Man hatte einfach Kinder. Ich sage nicht, dass das besser war. Nur halte ich die künstlichen Komplikationen und den intellektuellen Druck, dem wir uns in dieser Hinsicht aussetzen, für ziemlich übergeschnappt.