Chefredaktion : Holger Gayer (hog)


Sie treten unter anderem gegen zwei Kandidaten an, die in der Wirtschaft und in der Bundespolitik Erfolge vorzuweisen haben. Warum sollten die Stuttgarter ausgerechnet Ihnen vertrauen?
Hallo? Weil ich auch sehr erfolgreich bin. Ich war vielleicht zu Beginn des Wahlkampfs noch nicht so bekannt wie einige meiner Konkurrenten – aber mir kommt die Zeit zugute. Wenn ich rausgehe, habe ich enormen Zuspruch von den Leuten. Da höre ich dann beim Steillagenfest in Mühlhausen: „Sie sind doch Bürgermeisterin, Sie haben als einzige Verwaltungserfahrung.“ So etwas hat für die Leute Gewicht!

Die SPD hat hier noch nie den OB gestellt.
Ja, aber Ute Kumpf war beim letzten Mal schon kurz davor, es war sehr knapp. Und jetzt haben wir eine neue Chance.

Ist es in Stuttgart wirklich ein Vorteil bei einer OB-Kandidatur von der SPD unterstützt zu werden?
Das ist eine suggestive Frage. Wenn ich mich allein auf die SPD-Klientel stützen würde, hätte ich keine Chance zu gewinnen. Also muss es mir gelingen, außerhalb der SPD Stimmen zu gewinnen. Im bürgerlichen Lager bekomme ich guten Zuspruch.

Uns beschleichen leise Zweifel, dass ein wertkonservatives Bürgertum eine ehemalige Gleichstellungsbeauftragte als eine von sich begreift.
Da reduzieren Sie mich auf eine Tätigkeit in meinem Leben, die genau fünf Jahre gedauert hat. Es gibt so viele unterschiedliche Themen, denen ich mich gewidmet habe.

Also was genau bieten Sie dann den bürgerlichen Wählern an, Frau Wilhelm?
Meine Bodenständigkeit, meine Werte, meine Kompetenz. Und dass ich die Stadt verstehe.

Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
Ich komme aus einer alteingesessenen Wengerterfamilie und bin hier aufgewachsen. Ich habe fast mein ganzes Leben lang in dieser Stadt gelebt. Ich kenne in Stuttgart viele Menschen und bin ganz anders vernetzt als Sebastian Turner oder Fritz Kuhn. Unterschätzen Sie das nicht!

Sie haben sich oft in sozialen Themen engagiert. In Stuttgart spielt die Industrie eine herausragende Rolle. Wo können Sie in diesem Bereich mitreden?
Noch mal: ich lasse mich nicht auf das Soziale reduzieren oder festlegen. Ich war in der Forschung, in der pädagogischen Praxis, in der Lehre und in der Verwaltung tätig. In Schwäbisch Hall bin ich als Erste Bürgermeisterin beispielsweise auch für das Stadtmarketing zuständig. Ich bin dort die erste Ansprechpartnerin für den Handel, die Gastronomie und die Hotellerie. In jedem Bereich meiner Arbeit habe ich mit Finanzen und Personal zu tun.

Wann haben Sie zum letzten Mal ein Daimler-Werk von innen gesehen?
Mitte Juli habe ich mir in Hedelfingen die Getriebeproduktion angesehen. Ich war auch schon bei Porsche und bei verschiedenen Mittelständlern. Wirtschaftsthemen sind mir überhaupt nicht fremd. Ich bin schließlich in einem mittelständischen Familienbetrieb aufgewachsen, den meine Eltern neu gegründet haben. Von Kindesbeinen an habe ich unternehmerisches Denken mitbekommen.

Lässt sich der Politikbetrieb in Schwäbisch Hall mit dem in Stuttgart vergleichen?
Es gibt Themen, die in beiden Städten ganz ähnlich gelagert sind. Wie gelingt beispielsweise der Ausbau der Betreuung für Kinder unter drei Jahren? Es geht hier wie dort um den Schulentwicklungsplan, um die Personalgewinnung, darum, wie man einen Haushalt aufstellt. Aber es gibt natürlich in Stuttgart auch Themen, die uns in Schwäbisch Hall nicht so sehr beschäftigen.

Da sind wir bei Stuttgart 21. Ihre eigene Position ist dabei so widersprüchlich, wie die der SPD: Ja, nein, vielleicht . . .
. . . Widersprüchlich? Warum? Ich habe es mir nicht leichtgemacht. Ich habe das Projekt lange Zeit begrüßt, weil ich es als Fortschrittprojekt gesehen habe. Stuttgart 21 bietet zudem Chancen für die Stadtentwicklung. Wir können totes Areal einer Gleisfläche in ein attraktives Wohngebiet umwandeln. Außerdem habe ich keine ernsthaften Sorgen, dass es technisch nicht gelingen könnte.

Dennoch haben Sie dann beim Volksentscheid dafür gestimmt, dass das Land aus der Finanzierung aussteigt.
Ja, weil sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei Stuttgart 21 so schwer abschätzen lässt. Sind es die Kosten wirklich wert, das Projekt umzusetzen?

Das ist eine politische Frage.
Und deswegen habe ich mich bei der Abstimmung gefragt, ob ich das wirklich verantworten kann. Außerdem habe ich als Schwäbisch-Hallerin abgestimmt. Und in dieser Eigenschaft wäre es mir lieber gewesen, wenn die Milliarden in den Ausbau des Regionalverkehrs geflossen wären.

Als Stuttgarterin wären Sie also wieder für das Projekt?
Der Volksentscheid hat ein klares Votum gebracht – damit ist auch eine eindeutige Entscheidung gefallen. Also wäre es meine Aufgabe als künftige Oberbürgermeisterin, dieses Votum umzusetzen. Meine eigene Meinung ist egal. Außerdem war ich nie eine Gegnerin, die versucht hat, das Projekt zu verhindern.

Das sehen wir anders. Es spielt schon eine Rolle, ob Sie aus reiner Verpflichtung heraus handeln oder aus Überzeugung.
Nein. Wie gesagt, ich bin seit zwölf Jahren in der Kommunalpolitik tätig, und da ist es eben manchmal so, dass Sie einen Auftrag vom Gemeinderat umsetzen müssen, obwohl Sie selbst anders entschieden hätten. Ich bin Demokratin, und für mich zählt der Volksentscheid. Dessen Ergebnis verstehe ich als klaren Auftrag. Der Verkehr ist für Stuttgart ein wichtiges Thema – aber nicht nur wegen Stuttgart 21.

Dann erklären Sie uns bitte, wie Sie Stuttgart entlasten wollen.
Ich spreche dabei ungern über Verkehr, sondern lieber über Mobilität. Die Herausforderung besteht für Stuttgart darin, den Verkehr optimal zu vernetzen. Wir brauchen beispielsweise eine Mobilitätskarte, mit der Sie ein Auto mieten, ein Fahrrad leihen und mit der Bahn fahren können. Unkompliziert und barrierefrei.

Ähnliche Gedanken äußern viele der OB-Kandidaten. Was wollen Sie in Stuttgart ganz konkret angehen?
Wir brauchen Parkplätze für Anbieter wie Stadtmobil, das ist für die derzeit ein großes Problem. Dazu bräuchten wir auch Parkhäuser und Tiefgaragen.

Die Sie wo herzaubern wollen?
Ich denke beispielsweise an Quartiersgaragen, die könnten entstehen, wenn Plätze in der Stadt umgestaltet werden. Grundsätzlich gilt: wo sehr viel Geld ausgegeben wird, muss man besonders kritisch hinschauen. Dies gilt auch für Infrastrukturprojekte. Aber wo Straßenbau sinnvoll ist, versperre ich mich dem nicht.