Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, fordert die Bundesregierung zu stärkerem Engagement in der Sozialpolitik auf. Er verlangt höhere Steuern für Reiche.

Stuttgart – Von Dienstag bis Donnerstag tagt in Stuttgart die Delegiertenkonferenz der Caritas. Ihr Präsident Peter Neher verlangt höhere Steuern für Reiche, aber kritisiert die Aktion Um-Fair-Teilen.
Herr Neher, die Caritas weist darauf hin, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich öffne. Woran macht sich das fest – wo fällt Ihnen Armut besonders auf?
Ich bin in vielen Städten in Deutschland unterwegs und da beobachte ich, wie Armut sichtbar wird. Da suchen Menschen an Bahnhöfen in Abfallkörben nach Pfandflaschen, Sie können kaum in Berlin in der S-Bahn oder U-Bahn fahren, ohne dass Sie jemand anspricht und nach Essen oder Geld fragt. Da wird deutlich, dass wir hier ein starkes Auseinanderdriften in der Bevölkerung haben. Es gibt auch diese zunehmende Entflechtung der Wohngegenden, da kommen Kinder nur noch schichtenspezifisch in die Schule und ein Erfahrungsaustausch oder eine Begegnung mit Kindern aus anderen sozialen Milieus ist schwierig. Allgemein beobachte ich, dass viele Menschen es nicht schaffen, aus einer prekären Lebenssituation herauszukommen.

Steuert die Bundesregierung dagegen?
Es ist Aufgabe jeder Regierung, den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft zu fördern. Durch die Euro- oder Wirtschaftskrise, die die Regierung seit 2008 intensiv beschäftigt, kann schon der Eindruck entstehen, dass innenpolitische Themen zu kurz zu kommen drohen. Die Kraft und Anstrengung, die den großen europäischen Themen gewidmet wird, die wünschte ich mir auch bei innenpolitischen Themen wie der Pflegereform oder dem Ausbau der Kita-Plätze. Es wäre unfair, der Regierung zu unterstellen, sie würde sich nicht darum kümmern. Aber ich denke, dass in ihrem Engagement noch das eine oder andere nachzulegen wäre.

Wenn Sie ins Kabinett blicken – wo sehen Sie da das soziale Gewissen verankert?
Nochmals, ich denke, es ist Aufgabe einer gesamten Regierung. Aber es gibt Ministerien, die in einer besonderen Art und Weise gefordert sind. Das ist das Arbeits- und Sozialministerium, aber auch das Familienministerium. Das Engagement ist, sagen wir es mal so, hier durchaus nicht ganz gleichmäßig verteilt. Gerade die Arbeits- und Sozialministerin hat einen Blick und ein Bewusstsein für die wichtigen Themen – etwa die Zusatzrente. Ob ihre Lösung die richtige ist, das sei dahingestellt, aber es ist ihr Verdienst, dass sie die kommende Altersarmut als Thema benannt hat. Es ist immer schwierig, einzelne Verantwortliche zu nennen, aber nach meinem Eindruck hat auch die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer viel erreicht, was die Solidarität mit Migranten anbelangt. Es gibt markante Frauen in dieser Regierung, die einiges auf den Weg gebracht haben.

Einige Caritas-Verbände – München und Limburg – machen mit bei der Kampagne Um-Fair-Teilen, in der SPD, Gewerkschaften, Attac und Linke engagiert sind. Warum bleibt ihr Bundesverband auf Distanz?
Über die Thematik und Grundlagen dieser Aktion kann man diskutieren, da ist manches richtig. Dass wir uns nicht beteiligen, hat aber gute Gründe. Die Aktion erscheint uns zu populistisch. Man tut so, als ob man mit einer Robin-Hood-Methode – nehmt’s den Reichen, gebt’s den Armen – alle finanziellen Probleme des Staates lösen könnte. Das greift eindeutig zu kurz. Umverteilungsdebatten in dieser Weise können schnell zu Neiddebatten werden und Gegnerschaften aufbauen, die den solidarischen Zusammenhalt gefährden.

Auch die Caritas spricht sich für höhere Steuern für Vermögende aus. Warum?
Angesichts der wachsenden Verschuldung des Staates ist die Handlungsfähigkeit bei sozialen Zukunftsthemen eingeschränkt und da ist es legitim zu schauen, wer über mehr Ressourcen und viel Vermögen verfügt und somit auch mehr beitragen kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir einmal einen Spitzensteuersatz von 52 Prozent hatten, der unter Rot-Grün auf 42 Prozent gesenkt worden ist. Es ist angemessen, über den Spitzensteuersatz nachzudenken. Wir sollten auch prüfen, ob es angemessen ist, die Einkommen aus Erwerbstätigkeit und Vermögen dermaßen unterschiedlich zu besteuern, wie es jetzt der Fall ist. Ich denke da an die Abgeltungssteuer für Kapitaleinkünfte, die liegt bei 25 Prozent. Keiner will eine Kapitalflucht ins Ausland – aber da ist meiner Ansicht nach Luft nach oben, 30 Prozent wären wohl verkraftbar. Ein weiteres ist die Erbschaftssteuer. Die Erbschaftssteuerreform von 2008 hat keine adäquate Besteuerung der Erbschaften gebracht. Wir haben pro Jahr ein Erbschaftsvermögen von ca. 250 Milliarden Euro für das gerade einmal 3,4 Milliarden Euro an Erbschaftssteuer anfallen – das ist unangemessen und wird das Auseinanderdriften von Arm und Reich weiter fördern. Man sollte an dieser Stelle nachsteuern.

Arm macht krank, sagt die Caritas. Wir haben im Weltmaßstab ein gutes Gesundheitssystem. Wo sind die Verlierer?
Deutschland hat ein gutes Gesundheitssystem, aber es gibt einige, die davon wenig profitieren: Obdachlose, Asylbewerber und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Auch der Zugang zu medizinischen Leistungen ist nicht für alle gleich. Es gibt genügend Beispiele, dass Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen nicht den gleichen Zugang haben wie Privatversicherte. Das sind Zusammenhänge, die man benennen muss, ohne das System schlecht zu reden.

Die Caritas hat kritisiert, dass das Thema Knappheit und Rationalisierung auch im Gesundheitsministerium tabuisiert wird: Wollen Sie Leistungen einschränken?
Wir haben eine Begrenzung bei Ressourcen wie Geld, Zeit und Fachkräften. Wir haben auf der anderen Seite einen erfreulicherweise wachsenden medizinischen Fortschritt. Da haben Sie also Begrenzung und unendliche Möglichkeiten. Wichtig ist, dass die Menschen die Gewissheit haben, dass sie die medizinisch notwendige Behandlung bekommen. Aber was wir fordern ist eine öffentliche Debatte über Rationierung beziehungsweise Priorisierung, die es ja längst gibt. Die Ärzte werden allein gelassen mit Budgetbeschränkungen und Auflagen für Therapien. Was sind denn die Kriterien für die Zuordnung bestimmter Maßnahmen? Vor Jahren hat es einen CDU-Nachwuchspolitiker gegeben, der meinte, Menschen über 80 Jahren sollten keine neuen Hüftgelenke mehr erhalten. Er ist zu Recht dafür massiv kritisiert worden, denn natürlich kann man nicht einfach Altersgrenzen festlegen. Heute können auch 85-Jährige noch fit sein und sich aktiv am Leben beteiligen. Dennoch: wir brauchen eine Debatte über Kriterien, die transparent und gesellschaftlich akzeptiert sind.

Biografie
: Peter Neher (57) stammt aus Pfronten im Allgäu, absolvierte zunächst eine Lehre als Bankkaufmann und studierte auf dem zweiten Bildungsweg Katholische Theologie. 1983 wurde er zum Priester geweiht, später arbeitete er als Klinikseelsorger und promovierte über „Sterbebeistand durch Laien“. Seit 2003 ist er Präsident des Deutschen Caritasverbandes.

 

Verband: Mit gut einer halben Million Mitarbeiter ist der katholische Wohlfahrtsverband Caritas einer der größten privaten Arbeitgeber. Die Delegiertenversammlung mit ihren 160 Mitgliedern ist das höchste beschlussfassende Gremium der Caritas. Bei ihrem Jahrestreffen in der Alten Reithalle in Stuttgart geht es um Altersarmut und andere soziale Fragen.