Die Krankheit ist in den Medien derzeit sehr präsent. Nicht ohne Grund: bis zur Jahrhundertmitte soll sich die Zahl der Betroffenen in Westeuropa auf knapp zehn Millionen Menschen verdoppeln. Wie groß ist das statistische Risiko, an Alzheimer zu erkranken?
Serge Gauthier: Das hängt stark vom Alter ab. Jeder dritte über 85 ist betroffen; bei den über 65-Jährigen ist es nur einer von zwanzig. Das klingt viel, aber man kann es auch positiv sehen: 19 von 20 haben die Krankheit nicht! Wir fragen uns natürlich: warum nicht? Das heißt, wir untersuchen auch gesunde Menschen und suchen nach Kriterien, die eine Rolle spielen könnten.
Wieso haben Musik und Tanz eine therapeutische Wirkung?
Serge Gauthier: Tanz ist körperliche Bewegung, und die vermehrt durch eine verstärkte Hormonausschüttung das Wachstum von Nervenzellen. Auch wenn die Krankheit weit vorangeschritten ist, bewahren sich die Patienten die Erinnerung an Musik. Und Musik hat, das wissen wir, eine lindernde Wirkung; vor allem der Rhythmus spielt eine große Rolle. Wenn mein Sohn mit Gauthier Dance Mobil in Pflegeheime geht, gelingt es ihm und seinen Tänzern immer wieder, die Patienten aus ihrer Apathie zu wecken.
Eric Gauthier: Die Leute lächeln, bekommen leuchtende Augen! Der Tanz bringt die Menschen in Bewegung, auch im Kopf. Wir spielen auch mit den Zuschauern, werfen Bälle hin und her. Einmal hat eine Frau, die sich seit einem Jahr nicht mehr bewegt hatte, dabei angefangen, ihre Arme und Hände hin und her zu schwenken. Der Neurologe sagte mir hinterher: Herr Gauthier, Sie haben ein Wunder bewirkt!
Viele Menschen haben Berührungsängste, wissen nicht, wie sie mit Kranken umgehen sollen. Gerade mit Alzheimer-Patienten kommt man kaum in Kontakt, viele leben jenseits der Öffentlichkeit in Pflegeheimen.
Eric Gauthier: Berührungsängste? Das Wort kenne ich gar nicht. Dass meine soziale Seite so stark ausgeprägt ist, hat sicher mit meinem Vater zu tun, das liegt bei uns im Blut. Ich habe schon als Kind miterlebt, wie er Patienten behandelte; ich kann mich sogar noch daran erinnern, dass ich in seinem Büro unterm Schreibtisch gesessen habe. Und als ich sechzehn war, habe ich während der Sommerpause der Ballettschule im Altersheim gearbeitet. Ich weiß noch, wie ich die Leute zum Lachen brachte.
Serge Gauthier: Das ist auch mein Ansatz: die Menschen zum Lachen bringen, entdramatisieren. Die Leute sagen mir oft: Sie sind eine „show person“. Ich bin eben wie mein Sohn!
Eric Gauthier (lacht): Nein, nein, ich bin wie mein Vater! Ich halte das für ein Geschenk, das uns da mitgegeben worden ist: Wir sehen die positiven Seiten von allem, nicht die negativen.
Herr Gauthier, wie war Eric als Kind?
Serge Gauthier: Bei ihm war ständig Showtime. Bei jeder Feier hat er mit seinen Cousins und Cousinen eine Show einstudiert, die sie im Wohnzimmer präsentiert haben. Als er älter war, hat er Videos gedreht, da war das halbe Dorf involviert.
Waren Sie überrascht, als sich herausstellte, dass er Tänzer werden will?
Serge Gauthier: Nun ja, er hat uns schon überrascht. Da war er erst elf Jahre alt. Wir hatten uns „Cats“ angesehen. In dem Musical gibt es eine tanzende Katze, die zaubern kann. Eric sagte, er wolle das machen, was die Katze macht. Wir dachten, okay, das Kind will Zauberer werden. Irrtum: Eric wollte so tanzen wie die Katze!
Was begeistert Sie als Wissenschaftler am Tanz?
Serge Gauthier: Wie schnell die Tänzer lernen! Der Choreograf sagt, was sie machen sollen – und sie setzen das sofort um. Und erinnern sich später auch noch daran! Das ist irgendwo in ihrem Gehirn versteckt – aber ich habe keine Ahnung, wo.

Forscher
Der Mediziner Serge Gauthier ist seit vielen Jahren in Kanada an der McGill University, Quebec, in der Alzheimerforschung tätig und gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet.

 

Choreograf
Sein Sohn Eric, 1977 in Montreal geboren, ehemaliger Solist des Stuttgarter Balletts und seit 2007 Leiter von Gauthier Dance am Theaterhaus, ist mit seinen Produktionen auch international erfolgreich.

Gala
Die Benefizveranstaltung zu Gunsten der Alzheimer-Forschung beginnt am Samstag um 19.30 Uhr im Stuttgarter Theaterhaus. Es gibt Restkarten an der Abendkasse.