Ist die Agenda 2010 am Ziel oder am Ende? Florian Gerster, einer der Vordenker der Agenda, nimmt im StZ-Interview dazu Stellung.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)
Stuttgart - Die Hartz-Gesetze gehen dem früheren Chef der Bundesagentur für Arbeit, Florian Gerster, noch nicht weit genug. Die Sozialpolitik sei dabei, in das Denken der siebziger und achtziger Jahre zurückzufallen, rügt er.

Herr Gerster, Sie waren Mitglied der Hartz-Kommission und als Chef der Bundesagentur für Arbeit mit der Umsetzung der Reformen betraut. Sind Sie heute noch stolz auf die Agenda 2010?


Stolz bin ich allenfalls darauf, an der Modernisierung des Sozialstaates mitgewirkt zu haben. Die Agenda 2010 ist als Versuch, den Sozialstaat zu modernisieren, zumindest teilweise gelungen. Diejenigen, die ihn nur verteidigen, aber nicht an zeitgemäße Verhältnisse anpassen wollen, werden ihn nicht wirklich stabilisieren.

Was war 2002 das Motiv für die Agenda?


Die Arbeitslosenzahlen lagen über vier und entwickelten sich dann Richtung fünf Millionen. Kanzler Gerhard Schröder hatte das richtige Bauchgefühl, dass man mit herkömmlichen Mitteln diese Entwicklung nicht aufhalten könnte. Deswegen musste man etwas völlig Neues wagen.

Wie ist Ihre Bilanz?


Die Bilanz ist sehr durchwachsen. Hinter den Chiffren Hartz I bis IV verbirgt sich ja eine Vielzahl von Reformen. Wir haben an verschiedenen Stellen die Kompliziertheit des Sozialstaats vermutlich noch erhöht. Andererseits sind Botschaften vermittelt worden, zu denen die Politik heute kaum noch stehen will, die ich für zwingend notwendig erachte, um den Sozialstaat im Lot zu halten. Eine davon war: es gibt nichts ohne Gegenleistung. Das heißt, wegzukommen von der fürsorglichen Belagerung der Sozialpolitik alten Schlags.

Wie würde Deutschland heute dastehen, wenn es die Agenda nicht gegeben hätte?


Wir hätten über eine Million Arbeitslose mehr. Und die Politik wäre wohl tief gespalten zwischen Radikalreformern, die den Sozialstaat im großen Stil zurückstutzen wollen, und einer fast sozialistischen Gegenbewegung - Kapitalismus pur oder DDR light. Das ist für mich eine Horrorvorstellung.

Für die SPD war die Agenda 2010 Horror.


Die SPD hat ihre Identität verloren und verteidigt nur noch alte Strukturen. Das gilt auch für weite Teile der Gewerkschaften. In der aktuellen Debatte über Sozialpolitik herrscht eine katastrophale Ideenarmut. Die Politik ist in das Denken der siebziger und achtziger Jahre zurückgefallen.

Woher kommt das?


Es hat zu tun mit einem Mangel an geistiger Führung. Ich weiß, das ist ein problematischer Begriff. Helmut Schmidt hat ihn immer abgelehnt, gleichwohl hat er geistig geführt. Schröder war ein hochbegabter Instinktpolitiker, der mit seiner Agenda auf der richtigen Spur lag. Aber er konnte diese Politik weder der eigenen Partei noch der Bevölkerung vermitteln. Er hat sich nicht einmal bemüht, das zu tun. Wenn es gelungen wäre, dann wäre unser Land heute weiter - und die SPD wäre nicht im Abseits.

Ist das nur ein Kommunikationsproblem? In weiten Teilen der Bevölkerung herrscht ein Sicherheitsdenken, das sich auch die CDU zunutze macht. Wie wollen Sie gegen diese Mentalität ankommen?


Natürlich gibt es in Deutschland Angst vor sozialem Abstieg. Bis hinein in die Mittelschicht herrscht ein gewisser Fatalismus. Aber gleichwohl ist es ein Versäumnis politischer Führung, nicht deutlich zu machen, dass ein Sozialstaat, der sich nur auf alte Strukturen stützt, unter veränderten Bedingungen zum Ballast werden muss. Wir geben Milliarden aus, um Minderheiten ruhigzustellen. Aber wir dulden gleichzeitig, die Einwanderung geringqualifizierter Menschen in unser Sozialsystem. Wir haben eine stabile Unterschicht, die mit viel Geld ausgehalten, aber nicht gefördert wird. Wir erkaufen uns den sozialen Frieden mit zu viel Geld, ohne grundlegende Probleme zu beseitigen, und hemmen damit unser Wirtschaftswachstum.

Roland Koch fordert strengere Sanktionen. Stimmen Sie ihm zu?


Die Grundrichtung ist okay. Aber da spielt auch populistisches Kalkül mit eine Rolle. Zudem mangelt es seinen Vorschlägen an Pragmatismus. Wer die Kommunen verpflichten will, Arbeitslose gemeinnützige Jobs verrichten zu lassen, der muss sich von den eigenen Bürgermeistern sagen lassen, wie schwierig das ist. Arbeitsdienst funktioniert nicht.

Was schlagen Sie vor?


Ein Problem unseres Sozialstaats ist die völlig überzogene Einzelfallgerechtigkeit. Das klappt nur, wenn Arbeitslose handverlesen betreut werden können. Wo das nicht möglich ist, muss es klare Regeln geben. Wer drei zumutbare Jobangebote bekommt und sie nicht annimmt, der darf kein Arbeitslosengeld mehr bekommen. Da müssen die Leistungen gekürzt werden, oder es gibt eben nur noch Sachmittel.

Sind Sie auch für eine Generalrevision der Hartz-Gesetze, wie Jürgen Rüttgers fordert?


Rüttgers zählt zu denen, denen der Sozialstaat noch nicht ausgefeilt genug ist. Wir müssen den Mut haben, Leuten, die sich auf Dauer in der Arbeitslosigkeit einrichten, etwas zuzumuten. Wer offensichtlich arbeitsfähig ist, sollte auch arbeiten. Der Staat muss fordern, dann könnten die Zuverdienstgrenzen auch großzügiger sein.

Die CDU war einst für harte Reformen. Jetzt will sie Ungerechtigkeiten der Hartz-Gesetze beseitigen. Kommen Sie da noch mit?


Die stehlen sich aus der Affäre. Für besonders bedenklich halte ich die Erhöhung des Schonvermögens. Das ist nur ein Erbenschutzprogramm. Hinter der Parole von der Generalrevision verbergen sich sehr unterschiedliche Absichten. Natürlich muss man Sozialgesetze immer wieder überprüfen, man muss sie überprüfen mit dem Ziel zu sparen. Wo sonst soll man sparen? Ein weiteres Ziel heißt: alle Instrumente, die nicht zu Arbeit führen, sind überflüssig. Bei der Weiterbildung haben wir Ausgaben in Milliardenhöhe, die nichts bringen.