Sie ist keine Stubengelehrte, sondern eine Intellektuelle, die sich einmischt: Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, die in Stuttgart mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet wird, erklärt, warum Solidarität das Gebot der Stunde ist.

Stuttgart – Gesine Schwan ist keine Stubengelehrte, sondern eine Intellektuelle, die sich einmischt. Im Interview erklärt die Politikwissenschaftlerin, die seit 1972 Mitglied der SPD ist, warum gerade heute Werte wie Solidarität und Verantwortungsbewusstsein wichtig sind.
Frau Schwan, in einem Ihrer Texte zur Finanz- und Wirtschaftskrise schreiben Sie, dass diese zugleich eine Kulturkrise darstelle. Könnten Sie das ein wenig erläutern?
Was in der Banken- und dann Schuldenkrise zusammenkommt, ist eine ganze Reihe von Verhaltensweisen subjektiver Art, die man aber systemisch erklären muss. Es passiert nicht einfach so, dass sich auf einmal so viele Menschen unmoralisch verhalten – das hat vielmehr systemische Gründe. Eine Kernthese von mir lautet, dass in den letzten 25 Jahren im Zuge der Globalisierung in vielen Sektoren der Gesellschaft eine Wettbewerbsmanie entstanden ist, die zur Verantwortungslosigkeit geführt hat.

Viele Autoren würden in diesem Zeitraum die große Ära des Neoliberalismus verorten.
Ich vermeide den Begriff „Neoliberalismus“, weil das geschichtlich eigentlich ein Ordoliberalismus war, der ja gerade geregelt hat. Ich spreche hier lieber von einer Zeit der Entfesselung von Wettbewerb. Zugleich haben wir in dieser Phase die Übertragung ökonomischer Kategorien auf verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche erlebt, etwa auf die Bildung. Das drückte sich in der vorherrschenden Einstellung aus, dass es überall nur darauf ankomme, der Beste zu sein – und nicht darauf, Verantwortung für den größeren Zusammenhang zu übernehmen. Hier liegt meiner Ansicht nach der Kern der kulturellen Krise.

Es ist viel von der Gier der Banker die Rede, die „Zeit“ fragte neulich auf ihrer Titelseite: „Brauchen wir Gesetze gegen Gier?“
Ich sehe das kritisch. Ich finde diese Moralisierung, die in der Redeweise von den „gierigen Bankern“ zum Ausdruck kommt, lenkt ab von den eigentlich systemischen Problemen. Es ist nicht so, dass Menschen plötzlich einfach ausflippen. Sie handeln vielmehr in Anreizsystemen – und das Anreizsystem, das wir in den letzten 25 Jahren erlebt haben, hat sie gleichsam enthemmt. Das Denken an den anderen, Kooperationsbereitschaft, Solidarität – das alles ist in den Hintergrund gedrängt worden; auch, weil viele Menschen meinten, sich unsolidarisch verhalten zu müssen, wenn sie nicht untergehen wollten.

Aber ist es nicht die klassisch liberale Lehre, dass wenn jeder nach seinem eigenen Nutzen schaut, am Ende der Wohlstand aller steht?
Wenn man sich etwa Adam Smith anschaut, einen der großen Theoretiker des freien Marktes, dann hat auch er immer betont, dass durch den Staat Regeln gesetzt werden müssen, innerhalb derer der Markt überhaupt erst funktioniert – zum Beispiel durch das Rechtssystem. Darüber hinaus hat Adam Smith neben „The Wealth of Nations“ ein Buch geschrieben über moralische Gefühle – „The Theory of Moral Sentiments“ – und in diesem sagt er klar, dass ohne die Bereitschaft der Menschen, sich in andere gefühlsmäßig hineinzuversetzen, sich mit ihnen solidarisch zu fühlen, das Ganze nicht klappen kann. Smith war von Hause aus eigentlich Moralphilosoph.

In der Regel wird Smith aber nicht als Moralphilosoph wahrgenommen.
Man hat von ihm eben immer nur die Hälfte rezipiert. Es herrscht oft eine oberflächliche Sicht, die meint, die kapitalistische Marktwirtschaft könne mit einem grenzenlosen Egoismus gelingen.

Was müsste man denn konkret unternehmen, um der Kulturkrise entgegenzuwirken?
Ich glaube, da tut sich schon eine Menge. Es gibt immer mehr Menschen, die begriffen haben, wie zerstörerisch diese Regellosigkeit ist. Das ist etwa daran abzulesen, dass beim jüngsten G-20-Gipfel eine große Zahl von Staatschefs der Ansicht war, dass die Steuerschlupflöcher endlich gestopft werden müssen. Diese Haltung ist der Einsicht geschuldet, dass ein schwacher Staat eine Wirtschaft nicht regeln kann. Auch im Bildungssektor gibt es die Einsicht, dass der zerstörerische Wettbewerb, die Konzentration auf die Eliten, abgeschafft gehört.

Sie schreiben auch, dass die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland dringend einer Pluralisierung bedürfen.
Wissenschaftstheoretisch gilt für alle Disziplinen: wenn man immer nur aus einer Perspektive ein Problem betrachtet, wird man einseitig und verfehlt die Wirklichkeit. Das ist eigentlich eine erkenntnistheoretische Banalität. Vor allem in den Wirtschaftswissenschaften haben wir eine starke Dominanz der sogenannten Angebotstheorie erlebt – und erleben sie zum Teil heute noch. Das kann so gar nicht funktionieren; wer praktisch handeln will, muss sich immer auch Gegenpositionen anhören und sie prüfen.

Wenn Sie mehr solidarisches Handeln einfordern, sehen Sie dann neuere soziale Bewegungen wie etwa Occupy Wall Street mit Sympathie?
Ja, ich habe da durchaus Sympathien – auch wenn klar ist, dass solche Bewegungen, sei es nun in Manhattan, Madrid oder auf dem Tahrirplatz, nicht sofort eine kohärente Strategie der Veränderung vorschlagen können. Aber man braucht einen kulturellen Wandel, man braucht wieder ein größeres Interesse daran, die gemeinsamen Verantwortlichkeiten ernst zu nehmen – anstatt sich nur alleine durchzuboxen.

In Ihrem Vortrag heute beziehen Sie sich auf Fromms Begriffe des „Seins“ und des „Habens“. Während „Sein“ einen gelingenden Lebensvollzug bezeichnet, bei dem sich der Mensch in ein aktives Verhältnis zur Welt setzt, meint „Haben“ eine Existenzweise des bloßen Konsums. Ist das nicht etwas bieder?
Es ist meiner Ansicht wirklich daneben, wenn man in armen Gegenden gegen den Konsum predigt. Angesichts der grassierenden Ungleichheit sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch global muss man, gerade wenn man aus dem reichen Norden stammt, aufpassen, dass man den anderen nicht vorhält, sie sollten sich nicht so aufs Konsumieren konzentrieren. Aber zugleich gibt es Teile der Welt, wo die Sinnlosigkeit immer weiter gesteigerten Konsums ganz offenkundig ist. Ein Indiz dafür ist unter anderem die wachsende Zahl an Depressionen.