Politik: Matthias Schiermeyer (ms)


Mit dem 4,3-Prozent-Abschluss von 2012 kommen Sie auf ein Lohnplus von fast 30 Prozent binnen zehn Jahren. Eilen Sie der Gesamtwirtschaft davon?
Mit Zins und Zinseszins waren es sogar etwas mehr als 30 Prozent. In der gleichen Zeit betrug der Inflationsanstieg 18,1 Prozent. Das heißt, wir haben real ein deutliches Kaufkraftplus in den tarifgebundenen Betrieben erreicht. Gesamtwirtschaftlich dagegen konnten die Gewerkschaften im vorigen Jahr im Durchschnitt aller Beschäftigten erstmals nach vielen Jahren wieder ein Reallohnplus erreichen – davor ständig ein Reallohnminus. Zwischen unserer Branche und der Gesamtwirtschaft hat sich die Schere vergrößert. Insofern sind die Schlussfolgerungen der Ökonomen nicht immer geeignet für konkrete Lohnpolitik.

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hält fünf Prozent Plus über alle Branchen für notwendig. So würde Deutschland sein Lohnniveau anheben, und die Südländer würden wettbewerbsfähiger. Können Sie der Logik „Deutschland muss teurer werden“ folgen?
Nicht in der beschriebenen Plattheit. Bei aller Bedeutung der Europäischen Union: Heute gehen deutlich weniger als 40 Prozent des Exports in die EU. Die Hauptmärkte sind somit außerhalb der EU. Wenn wir überproportional Löhne erhöhen würden, hätte dies zur Folge, dass sich die Exporte aus dem Euroraum negativ verändern würden. Wir brauchen aber nicht weniger, sondern mehr Wachstum in Europa. Zudem: Wir haben europaweit im Vergleich mit Spanien, Frankreich und Italien das höchste Lohnniveau in der Exportwirtschaft – absolut und auch in der Entwicklung der letzten Jahre. Unser Kernproblem ist nicht die Lohnentwicklung in der Exportindustrie, sondern die wachsende Schere innerhalb von Deutschland, die indirekt die Position der Wirtschaft mitbestimmt. Wenn man den Leiharbeiter für acht Euro die Stunde einkauft oder die Gebäudereinigung für sechs Euro nach draußen vergibt, sind das auch Wettbewerbsfaktoren. Dazu gehört auch, dass der Staat seine Beschäftigten nicht ordentlich bezahlt, weil Unternehmen und Vermögende nicht nach ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden.

Gesamtmetall-Präsident Dulger vermag kein Wachstum zu erkennen – bestenfalls werde eine schwarze Null in diesem Jahr herauskommen. Ist das schon Schwarzmalerei im Hinblick auf die Tarifrunde?
Er geht schon ziemlich grau in grau. Die Branchenverbände wie der VDMA sagen deutlich optimistischere Szenarien voraus. Bis November gingen die Erwartungen eher nach unten, seither steigen sie wieder deutlich. Auch die Auftragseingänge nehmen seit November zu, nachdem sie sich im September und Oktober abgeschwächt hatten. Wir stehen eindeutig nicht vor einer Rezession. Deswegen gibt es keinen Grund zur Zurückhaltung. Die Tarifpartner können vielmehr ein Teil dazu beitragen, indem wir in der Entgeltentwicklung für Stabilität sorgen: Damit würden beide Seiten signalisieren, dass wir nicht vor einer Krise stehen. Das stärkt die Kaufkraft. Gerade stellen wir fest, dass die Sparquote deutlich nach oben geht. Es wäre daher wirtschaftlich vernünftig, wenn Arbeitgeber die taktische Schwarzmalerei nicht überziehen – wir werden auch nicht blauäugig durch die Gegend marschieren, was die Wirtschaftsentwicklung angeht.