Was meinen Sie damit, wenn sie schreiben, mit dem Mauerfall sei die Idee der Zukunft abhandengekommen?
Mit den Demonstrationen des Herbstes 1989 und mit dem Mauerfall begann ja die Zukunft! Mit der Zukunft waren Hoffnungen verbunden gewesen. Und nun merkten wir, dass sich die Welt tatsächlich zum Besseren verändern lässt. Es war ein Aufbruch ins Unbekannte. Dieser Aufbruch endete dann schnell im Beitritt der DDR zum Westen. Leider war es eben keine Vereinigung, bei der auch der Westen die Chance gehabt hätte, sich zu überprüfen und zu ändern. So gab es nur eine Bestätigung von vielem, was zuvor auch im Westen infrage gestellt worden war. Die Zukunft wurde zu etwas, das sich eigentlich erledigt hatte, weil wir schon jetzt in der besten aller Welten angekommen waren. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Neudeutung des Hegel’schen Begriffs vom „Ende der Geschichte“. Es lässt sich kaum mehr etwas denken, das außerhalb des Status quo liegt.

Was hat aus Ihrer Sicht zu dem politischen Phänomen geführt, dass grundlegende Fragen nicht mehr diskutiert werden – mit dem Argument der „Alternativlosigkeit“?
1947 sprach die CDU in ihrem Ahlener Parteiprogramm noch davon, dass „Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung (. . .) nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein“ kann. So denkt die CDU schon lange nicht mehr. Ich glaube aber, dass ohne einen Gegenentwurf zum Gegenwärtigen auch der Status quo mehr und mehr verkommt. Der Westen hat sich seit 1990 nicht zu seinem Vorteil entwickelt. Wer im Westen gearbeitet hat, für den war die DDR doch ein Vorteil. Unter die sozialen Standards des Ostens konnte man keinesfalls gehen. Es klingt vielleicht etwas paradox, aber Hartz IV hätte es mit der DDR hinter der Mauer nicht gegeben.

Auch bei den politisch etablierten Parteien wird die Erosion der Demokratie gar nicht bestritten. Was müsste sich ändern?
Wie soll man an die Demokratie glauben, wenn man die Volksvertreter als ohnmächtig erlebt. Niemand glaubt doch wirklich, dass die Abgeordneten verstehen oder gar die Folgen abschätzen, was sie da etwa an Rettungsschirmen beschließen. Wer als Volksvertreter an dieser Stelle sagen würde: Moment, ich brauche zwei Wochen, um das zu lesen und jemanden, der mir das erklärt, dann würde man ihn, wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ als unverzeihlich dumm ansehen und als ungeeignet für ein Amt. Aber trotzdem machen (fast) alle mit, weil sie sich dem Zeitdruck und der „Alternativlosigkeit“ beugen. Man muss sich selbst ernst nehmen und Verbündete suchen. Der eigentliche Held in „Des Kaisers neue Kleider“ ist ja nicht das Kind, das sagt, dass der Kaiser nichts anhat, sondern der Vater des Kindes, der die Beobachtung des Kindes bestätigt. Erst dadurch wird die Beobachtung, dass der Kaiser ja gar nichts anhabe, ernst genommen. Der Vater aber riskiert damit seine bürgerliche Existenz.

Wächst Ihrer Einschätzung nach der Verdruss unter den Menschen über die Situation und der Zweifel am System?
Ja. Und das hat vor allem mit der fehlenden Gerechtigkeit zu tun. Es wird viel zu wenig über die soziale und ökonomische Polarisierung unserer Gesellschaft gesprochen. Noch nie war der private Reichtum so groß, noch nie war die öffentliche Verschuldung so hoch. Der Reichtum konzentriert sich bei wenigen. Und die Angst, sozial abzustürzen, wächst. Wenn ich mich unter Bekannten oder auch in der Familie umsehe, dann kommt die Hälfte von denen, die in meinem Alter sind, auf eine Rente, die unter 800 Euro liegt, mitunter weit darunter, obwohl sie immer gearbeitet haben.