Adel Khodaida Kheder und andere Jesiden im Raum Stuttgart bangen um ihre Familien und Freunde im Irak. Kheders Familie ist an die türkische Grenze geflüchtet, wo sie in einem Zelt übernachtet. Trinkwasser ist vorhanden – aber es ist nicht sauber.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart – Etwa 60 jesidische Familien wohnen im Raum Stuttgart, schätzt Adel Khodaida Kheder. Sie alle sind in großer Sorge um ihre Angehörigen. Der 42-Jährige wohnt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Kirchheim/Teck. Im Jahr 2001 flüchtete der damalige Bauingenieur-Student vor dem Saddam-Regime nach Deutschland. Seine Mutter und fünf seiner Brüder leben noch mit ihren Familien im Irak, sie hausen jetzt zusammen in einem Zelt in der autonomen Region Kurdistan an der türkischen Grenze – in ständiger Angst vor der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), wie Kheder berichtet.

 
Herr Kheder, wie geht es Ihrer Familie im Irak?
Meine Familie stammt aus dem Ort Hatara nördlich von Mossul, wo einst mehr als 12 000 Menschen lebten. Dort habe ich sie im vergangenen August noch mit den Kindern besucht. Jetzt ist der Ort komplett verlassen, weil die Islamisten nur zwei Kilometer entfernt sind. Nach den Gräueltaten von Sindschar sind alle Einwohner Hals über Kopf geflohen, als die IS-Milizen näher rückten. Meine Mutter, meine Brüder und ihre Familien sind mit dem Auto an die türkische Grenze gefahren und hausen dort im Wald in einem Zelt, das sie mitgenommen haben. Andere Angehörigen halten sich an anderen Stellen im autonomen Kurdengebiet auf.
Die Grenze zur Türkei können Ihre Angehörigen nicht überqueren?
Das ist unmöglich, viele Menschen haben keinen irakischen Pass und sitzen an der Grenze fest. Sie leben in ständiger Angst, dass die islamischen Extremisten noch weiter vorrücken. Die kennen keine Gnade mit den Jesiden. Die Christen werden noch vor die Wahl gestellt, zum Islam zu konvertieren oder sich freizukaufen. Uns bezeichnen die Islamisten als Teufelsanbeter, es gibt nur zwei Alternativen: der Übertritt zum Islam oder der Tod.
Wie ist die Versorgungslage Ihrer Familie?
Nicht so schlimm wie im Sindschar-Gebirge, wo jeden Tag Menschen, vor allem Kinder, verdursten. Meine Familie hat ausreichend Wasser, allerdings ist das Flusswasser nicht besonders sauber, die Kinder – sie sind zwischen ein und sechs Jahre alt – sind alle erkrankt. Dazu kommt die Hitze, tagsüber liegen die Temperaturen bei 45 Grad Celsius.
Wie schaffen Sie es, Kontakt zu Ihrer Familie zu halten und sich über die Lage vor Ort zu informieren?
Einer meiner Brüder hat ein Handy dabei, das er aber nicht regelmäßig aufladen kann. Ich versuche, so oft wie möglich mit ihm zu telefonieren, häufig kommen auch meine anderen beiden Brüder, die hier leben, zu uns, damit wir alle mit der Familie im Irak sprechen. Außerdem informiere ich mich über Facebook, wo Jesiden, die Sindschar überlebt haben, über ihre Erlebnisse berichten. Von einem ehemaligen Schulkameraden, der sich nach Syrien retten konnte, weiß ich, dass ein anderer Bekannter, ein früherer Kommilitone, noch im Sindschar-Gebirge festsitzt. Manchmal sind wir bis 2 Uhr wach, weil wir uns angesichts der schrecklichen Bilder aus dem Irak solche Sorgen machen. Ruhig schlafen kann im Moment kein Jeside. Wir werden ja immer wieder von islamischen Extremisten verfolgt, aber dies ist Völkermord.
Wie kann man langfristig dafür sorgen, dass die Jesiden im Irak sicher leben?
Wir brauchen, zusammen mit den Christen, mit denen wir uns gut verstehen, eine eigene Armee. Von den kurdischen Peschmerga fühlen wir uns im Stich gelassen. Außerdem könnte ich mir die Einrichtung einer UN-Schutzzone vorstellen.
Können Sie den Flüchtlingen von hier aus irgendwie helfen?
Wir sammeln Geld und überweisen es unseren Angehörigen. Aber viel können wir nicht tun, es gibt so viele Flüchtlinge – und immer noch zu viele Menschen, die keine Hilfe bekommen und auf der Straße leben müssen. Vergangene Woche gab es eine Demonstration in Stuttgart gegen den Terror der IS-Miliz, an der wir teilgenommen haben. Vor der Katastrophe im Irak wollten wir eigentlich einen eigenen Stuttgarter Verein gründen. Jetzt hoffen wir nur noch, dass das alles bald vorbei ist, die Familien von den Bergen kommen und überleben.