Kultur: Stefan Kister (kir)
Sie schreiben einmal, dass in einem geeinten Europa von Deutschland keine Gefahr mehr ausgeht. Aber Europa bröckelt.
Das sehe ich anders. Wir werden gerade Zeuge einer Völkerwanderung. Dass das überall, wo sie hinkommt, eine Unruhe, eine Krise auslöst, ist doch selbstverständlich. Deswegen fand ich ja die Bundeskanzlerin so toll, als sie gesagt hat, wir schaffen das. Sie hat dem historischen Moment entsprochen: das musste man sagen. Wenn nachher ein Seehofer kommt und eine Obergrenze ausrechnen will, ist das für mich der Punkt, wo Politik beginnt, lächerlich zu werden. Das ist dem Anlass gegenüber unwürdig. Sicher steckt Europa in einer schwierigen Lage, man kann sich die Geschichte eben nicht aussuchen. Aber dem müssen wir entsprechen, und ich bin ganz sicher, dass Merkel recht hat: wir werden das schaffen.
Aber der Populismus blüht.
Dass sich Zukurzgekommene in einem solchen Krisenaugenblick etwas ausrechnen, womit sie ein Geschäft machen können, ist klar. Es gibt in jeder Gesellschaft Zukurzgekommene aller Art, und die sind hochachtenswert. Aber was politische Funktionäre daraus machen, ist schmählich. Ich glaube, dass die AfD keine Gefahr ist, sie hat keine politische Substanz. Diese Partei ist ein reines Ressentimentprodukt und wird verschwinden wie die Republikaner, an die man sich kaum noch erinnert. Anders sieht es mit Marine Le Pen in Frankreich aus. Deutsche sollten allerdings vorsichtig sein, französische politische Entwicklungen zu kritisieren. Frankreich ist die Urdemokratie Europas. Ich bin ein interessierter Beobachter, aber ich würde mir nie gestatten, ein Urteil abzugeben.
Die Öffentliche Meinung sei das Nervensystem der Demokratie, nach der Erschaffung Gottes unser wichtigstes Werk, heißt es 1987 in Ihrer Laudatio auf Rudolf Augstein. Wir erleben gerade aber einen Autoritätsverlust der klassischen Medien.
Wir brauchen keine Autorität, sei es vom Bundespräsidenten, sei es von Kirchen, sei es von den Medien. Alle Autorität ist für mich eine Stagnation, eine Macht, die nicht legitim sein kann. Auch Kafka, Proust, Dostojewski sind für mich keine Autoritäten, sondern Menschen, die ich mit dem größten Interesse lese und die dann auf mich wirken. Es liegt an den Medien, ob darin so geschrieben und so gesprochen wird, dass es einflussreich ist. Man kann dann immer noch streiten, ob der Einfluss gut oder schlecht ist. Nach meiner Erfahrung sind wir in der Hinsicht so ungefährdet, wie wir es noch nie waren. Die 25 Jahre der deutschen Einigung sind die produktivsten, glücklichsten deutschen Geschichtsjahre, die ich kenne. Wir sind durch die Erfahrung unserer Geschichte geschützt gegenüber allen autoritären Tendenzen.
Sie verurteilen immer wieder die Medienöffentlichkeit, und doch dokumentiert dieses Buch, wie sehr sie Teil davon sind. Wie geht das zusammen?
Ich habe festgestellt, wer in einer linken Zeitung schreibt, lässt alles weg, was gegen das sprechen würde, was er da schreibt; wer in einer rechten Zeitung schreibt, macht das gleiche. Jeder leistet einen Verzicht, um deutlich zu sein. Das gesamte öffentliche Meinungsgebäude ist auf diese Weise ein ziemliches Kunstprodukt. Es ist vielleicht utopisch, aber ich finde, wenn jemand im Bundestag etwas vertritt, soll er auch vertreten, was dagegen spricht. Wenn ich beides gehört habe, kann ich entscheiden, was mir näher ist. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Das ist mein Verhältnis zu den Medien.
Wenn man über die Paulskirchenrede sprechen könnte, jenseits dessen, was in der Rezeption zu ihrem ausschließlichen Gegenstand wurde, müsste man doch sagen, dass sie eine einzige große Liebeserklärung an die Sprache der Literatur ist. Wie verhalten sich Ihr letzter Roman „Statt etwas“ und „Ewig aktuell“ zueinander?
Zu meinem Erstaunen ist die Sammlung von „Ewig aktuell“ eine Art Autobiografie geworden, wie ich sie nie hätte schreiben können. Der Figur meines Romans „Statt etwas“ aber bin ich erklärungslos nahe. Derjenige, der da schreibt merkt, wie die Gesellschaft sich in seinem Bewusstsein eingenistet hat, dass er immer etwas vertreten musste. Und jetzt will er nur noch sich selbst sein, ohne jede belletristische Verkleidung. Es ist ein Risiko, den Menschen so etwas anzubieten und Roman zu nennen, ohne jede Spur belletristischer Buntheit. Dass ein solches Buch auf der Bestsellerliste landet - da könnte ich dann wirklich zum Nationalisten werden: das kann einem nur in Deutschland passieren.

Das Gespräch führte Stefan Kister