Winfried Kretschmann hält es für notwendig, die Zahl der Abschiebungen deutlich zu erhöhen: „Das wird eine andere Dimension bekommen als früher“, sagt er im StZ-Interview. Zugleich wendet er sich gegen Fremdenfeindlichkeit.

Stuttgart - Winfried Kretschmann steht vor seiner letzten Landtagswahl. Für ihn geht es um die Frage, ob er als Ministerpräsident weiter machen kann – oder künftig mehr Zeit für seinen Enkel hat. Was ihn aber in diesen Tagen noch mehr umtreibt, ist die Frage nach der Zukunft Europas in Zeiten der Flüchtlingskrise und die Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft.

 
Herr Ministerpräsident, haben Sie heute schon für die Gesundheit der Bundeskanzlerin gebetet?
Nein, das habe ich noch nicht.
Aber das tun sie doch, wie Sie neulich sagten. Sind Sie besorgt um Frau Merkel?
Lassen Sie es mich so sagen: Ich sorge mich um Europa. Und ich sehe derzeit außer der Kanzlerin niemanden unter den europäischen Staats- und Regierungschefs, der den Kontinent zusammenhalten könnte. Für diese schwierige Aufgabe begleiten die Kanzlerin meine besten Wünsche.
War es nicht sie, die Europa gespalten hat?
Das sehe ich überhaupt nicht so. Die Flüchtlinge kamen auch schon, ehe sie die berühmten Selfies mit Flüchtlingen gemacht hat. Da werden jetzt Legenden gestrickt, um ihr alleine die Verantwortung zuzuweisen. Dabei ist die Kanzlerin schlicht unserer humanitären Verpflichtung nachgekommen, Menschen Schutz zu gewähren, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Wir sollten uns eher über die wundern, die sie im Stich lassen. Man darf jetzt nicht die kritisieren, die sich an die Genfer Flüchtlingskonvention halten. Vielmehr ist an diejenigen, die diese Vereinbarung ebenfalls unterschrieben haben, die Frage zu richten: Wo bleibt ihr?
Aber war es nicht Frau Merkel, die das Dublin-III-Abkommen aussetzte?
Dublin wankte doch schon lange zuvor. Griechenland und Italien waren von dem System völlig überfordert.
Was würden Sie denn jenen Ländern, die sich aus der Solidarität verabschieden, gerne zurufen? Also den Visegrád-Ländern in Ostmitteleuropa, aber auch Großbritannien und Frankreich?
Schaut in die Welt, in diesen Kosmos von Großmächten und supranationalen Zusammenschlüssen. Betrachtet diese Welt und beantwortet dann die Frage, was einzelne europäische Nationalstaaten in diesem globalen Konzert noch bewirken können. Diese politischen Krisenherde, der Klimawandel, das Wettrennen um Bodenschätze und Märkte, jetzt die Flüchtlingskrise – glaubt ihr, dass ihr das im nationalen Alleingang lösen könnt? Das würde ich den Regierungen dieser Ländern sagen. Wir können doch in dieser durchglobalisierten Welt – Kapital, Arbeitskräfte, Informationen und Wissenschaft – nicht glauben, die großen Probleme ließen sich im Rückwärtsgang lösen. Den Visegrád-Staaten möchte ich zurufen: Habt ihr vergessen, wo ihr vor 25 Jahren noch standet? Wer schützt euch denn? Es sind die Nato und die Europäische Union.
Aber zeigt sich nicht mehr und mehr, dass Merkels Plan A nicht funktioniert?
Ich sehe keine vernünftige Alternative. Die europäische Solidarität ist wie ein zartes Pflänzchen, das wir behutsam aufpäppeln müssen.
Aha, Kretschmann der sorgende Gärtner. Wie stellen Sie das an?
Wir müssen erstens die Flüchtlingslager in der Türkei, in Jordanien und im Libanon stabilisieren. Zweitens gilt es, die EU-Außengrenzen zu sichern. Denn nur, wenn dort Ordnung herrscht, wird man die Regierungen, die Angst vor einem ungeordneten Zuzug haben, in die Solidarität zurück- geleiten können. Wenn am Ende das alles nichts hilft und die Kanzlerin auf ganzer Linie scheitert, müssen wir in Europa einen Schritt zurückgehen. Das würde aber einen sehr, sehr hohen Preis kosten. Ich bin zuversichtlich, dass es nicht so weit kommen wird. Und die Reaktion der Bundeskanzlerin auf die ersten Ergebnisse des EU-Gipfels bestärken mich darin.
Muss man nicht um der inneren Stabilität dieses Landes schneller zu Lösungen gelangen, als dies Frau Merkels Plan A zulässt?
Wir werden die Flüchtlingszahlen verringern. Das ist notwendig, aber auch absehbar. Dazu ist die bessere Ausstattung der Flüchtlingslager am Rande der Krisengebiete unerlässlich, ebenso die Sicherung der EU-Außengrenze. In Deutschland sind wir dabei, die Asylverfahren zu beschleunigen und die Rückführungen auszuweiten.
Das glauben Sie doch in tausend kalten Wintern nicht, dass nach den bisherigen Erfahrungen die Zahl der Abschiebungen mit dem Anstieg der Zuwanderung Schritt hält?
Das ist ein Baustein im Bestreben die Zahl der Flüchtlinge zu verringern. Wenn wir den Zustrom mit schnellen Entscheidungen rasch sortiert bekommen, dann können wir in einem ganz anderen Umfang zurückführen. Sie werden sehen, dass das eine andere Dimension bekommt als früher. Hunderttausend Menschen weniger in Deutschland würden zu einer deutlichen Entlastung führen. Und wir müssen klar machen: Für Menschen, die aus Perspektivlosigkeit zu uns kommen, ist das Asylrecht eine Sackgasse.
Was wäre denn an einer zeitlich befristeten Rückkehr zu den Grenzkontrollen schlimm?
Die filigranen Wertschöpfungsketten im Wirtschaftsleben würden massiv gestört. Das hat sofort negative Folgen für die Unternehmen mit ihrer Produktion just in time. Das besorgt mich als Ministerpräsident eines exportorientierten Landes wie Baden-Württemberg – zwei Drittel unserer Produkte gehen ins Ausland. Mich plagt aber auch die Sorge, dass mit den Grenzkontrollen eine Lawine losgetreten werden könnte, die den europäischen Gedanken zerstört. Denn es ist das geeinte Europa, das uns eine nie dagewesene Periode, inzwischen 70 Jahre, des Friedens und der Freiheit gebracht hat.
Ist die Flüchtlingskrise für die Landtagswahl das, was 2011 Fukushima war?
Das wird sich zeigen. Jedenfalls muss man damit rechnen, dass die AfD in den Landtag kommt. Das kann die Koalitionsbildung nach der Wahl kompliziert machen. Aber der Wahlkampf ist ja noch nicht zu Ende.
Vergiftet die AfD das politische Klima?
In ganz erheblichem Maße. Der gesellschaftliche Diskurs hat sich verändert. Menschen äußern sich offen rassistisch. Es wird ein vermeintliches Staatsversagen beschworen, als ob überall Köln wäre. Ich denke, ein Bodensatz an Fremdenfeindlichkeit ist in jeder Gesellschaft einfach da. Es gilt nun zu verhindern, dass dieses Denken und Reden nicht in die Mitte der Gesellschaft vordringt.
Woher kommen diese Selbsthysterisierungsbedürfnisse, die die AfD bedient? Handelt es sich um eine anthropologische Grundbedingung? Ist es, wie die Linken sagen, der Hyperkapitalismus, der die Menschen verunsichert? Oder die transzendentale Obdachlosigkeit einer aller Gewissheiten entkleideten Menschheit?
Dass wir vor dem Fremden Angst haben und dass wir Vorurteile pflegen, ist tief drin in unserer biologischen Struktur. Das ist einfach da und ein erfolgreiches evolutives Programm. Diese Ängste und Vorurteile wiederum einzuhegen, ist die kulturelle Aufgabe des Menschen. Sie führt in die Zivilisation. Doch der Lack ist dünn. Millionen von Müttern, Vätern, Lehrern, Journalisten, Politikern arbeiten daran, dass der Lack nicht abspratzt. Es macht den Menschen aus, dass er sich von seinen archaischen Ängsten emanzipiert und dass die kulturelle Evolution die biologische immer stärker überformt. Ich werde immer gefragt, weshalb ich gerne Fabriken besuche. Ich antworte dann, weil man dort die kooperative Seite der Menschen sehen kann. Innovation und Produktion beruhen auf Zusammenarbeit. Wer dort Vorurteile pflegt, hat schon verloren.
Das war jetzt ein scharfer Schwenk vom Säbelzahntiger zur Fabrikwelt. Sie versuchen ja, die Grünen als Wirtschaftspartei zu positionieren. Ist Ihnen die Wirtschaft wirklich so nah, oder ist sie Ihnen im Lauf Ihrer Amtszeit näher gekommen?
Dass ich die Wirtschaft verstehe, das bilde ich mir schon ein. Ich habe immer schon gerne Unternehmen besucht, auch wenn dies erst auffiel, als ich Ministerpräsident wurde. Mich treibt die Neugier und die Faszination von Technik.
Hhm, anfangs haben Sie schon gefremdelt.
Das ist eine Fehlwahrnehmung. Mein Impuls kommt aus der Ökologie. Es war immer klar, dass die großen ökologischen Konzepte nur über die Wirtschaft gehen. Windräder zu machen, die marktfähig sind, das können nur Betriebe mit ihren Ingenieuren und Facharbeitern. Aus jedem Fabrikbesuch bei einem dieser innovativen Mittelständler gehe ich freudig erregt hinaus. Und wenn Sie auf mein Verhältnis zu Autos anspielen: Dass es viele Autos gibt, ist einfach Realität. Als ich sagte, weniger Autos seien besser als mehr, ging es natürlich um die Umwelt. Außerdem ist im Zweifel jeder Konzernchef, wenn er im Stau steht, der Meinung, weniger Autos seien besser als mehr. Es kommt darauf an, welche Autos wir bauen, wie umweltfreundlich und intelligent unsere Mobilität ist.
Hand aufs Herz, ganz persönlich stehen Sie der Zitronengelben Tramete doch näher als dem jeweils neuesten Porschemodell.
Gar keine Frage, meine große Liebe gilt der Natur.
Gibt es diesen Pilz auch im Nationalpark Schwarzwald?
Es ist ein Pilz, der auf anderen Pilzen parasitiert. Er benötigt zum Überleben einen Urwald. Im Nationalpark gibt es solch einen alten Bannwald mit knapp 100 Hektar. Dort hat er überlebt. Aber ein Porsche ist natürlich auch toll.