Sie hatten in ihrer Rede davor gewarnt, dass mit der Entscheidung pro Berlin die föderale Struktur der Bundesrepublik Schaden nehmen könne, weil sich das Gespenst des Zentralismus schleichend ausbreiten könnte. Fühlen Sie sich rückblickend bestätigt oder widerlegt?
Das Wort Bestätigung will ich nicht benutzen. Aber niemand wird heute ernsthaft bestreiten können, dass von Berlin eine gewaltige Sogwirkung ausgeht. Jeder, der mitspielen will, glaubt eben, er müsse in Berlin sein. Aus meiner Sicht bedeutet das einen Verlust an Vielfalt, Buntheit und föderaler Kraft. Ich glaube ohnehin, dass der Nationalstaat seine beste Zeit hinter sich hat. Die nationalen europäischen Parlamente müssen nach zwei Richtungen abgeben: nach oben und nach unten, nach Europa und in Richtung Kommunen. Mittelfristig wird der Bürgermeister wichtiger als der Bundestagsabgeordnete. Einerseits wird die Musik in den großen Ballungsregionen spielen. Andererseits wird im Zeitalter globalisierter Nivellierung regionale Identität immer wichtiger.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
Zwei Megatrends sind sehr schwer miteinander zu vereinbaren: die Weltverantwortung – das schafft der Nationalstaat nicht mehr. Da braucht er mindestens Europa. Der Klimawandel oder die Bändigung des internationalen Finanzkapitalismus sind gute Beispiele. Und andererseits entsteht eine große neue Sehnsucht nach Geborgenheit und regionaler, heimatlicher Überschaubarkeit. In ein solches Konzept der Zukunft passt eine Metropole mit dominierendem Anspruch nicht.
Hat sich denn in der Berliner Republik die Politik verändert?
In einem Punkt jedenfalls nicht: Es gab damals ja das mit äußerstem Pathos vorgetragene Argument, man müsse nach Berlin, damit die Politik in den Brennpunkten des Lebens näher an den Bürgern sei; das hat sich offenkundig nicht als stichhaltig erwiesen. Auch unter dem Vorbehalt, dass man immer misstrauisch gegenüber der eigenen von der Abendsonne vergoldeten Nostalgie sein muss, glaube ich aber dennoch, dass sich die Politik verändert. Bonn war klein. Auch im Parlament sorgten diese überschaubaren Verhältnisse für eine nachbarschaftlichere Politik. Natürlich kommt die Bundespolitik heute mit mehr Imponiergehabe daher. In Bonn gab es ziemlich viel Kommunikation über Fraktionsgrenzen hinaus, in Berlin zerstreut und verliert sich dieser Dialog. Es ist anonymer geworden. Und das Mediengewerbe ist sicher auch rauer geworden. Der Aufwuchs an Medien hat auch ein gewisses Haifisch-Potenzial. In Bonn gab es auch in der Medienbranche mehr Korpsgeist. Geschichten, die die Privatsphäre von Politiker betrafen, wurden seltener veröffentlicht. Aber auch Absprachen über Sperrfristen und vertrauliche Mitteilungen wurden eher eingehalten. Ich habe den Eindruck, dass das heute schwieriger ist. Da heißt das Motto eher: Rette sich, wer kann!
Mit Bonn verband sich das Schlagwort vom „rheinischen Kapitalismus“ als Bild für einen fairen Interessenausgleich. Dieser rheinische Kapitalismus, für den Sie in gewisser Weise immer standen, wurde auch von ihrer Partei nach dem Berlin-Umzug für eine Weile ausrangiert.
Ja, der Leipziger Parteitag der CDU im Jahre 2003. Das war für mich schon ein einschneidendes Erlebnis. Ich musste mir in Leipzig vorkommen, als hätte ich Lepra. Wer noch was werden wollte, sah zu, dass er mit mir nichts zu tun hatte. Ich tröste mich damit, dass in der CDU inzwischen wieder eine Besinnung eingetreten ist. Dem großen Rausch von Leipzig folgte der schnelle Kater nach einem miserablen Bundestagswahlergebnis – trotz bester Voraussetzungen. Die Wähler waren vom Neoliberalismus nicht so berauscht wie die Delegierten des Parteitags. Wir haben Lehrgeld bezahlt.