Richard David Precht ist heute Abend im Theaterhaus Stuttgart zu Gast. Im StZ-Interview erklärt der Philosoph, warum die neuen Protestbewegungen eine Antwort auf die Krise sind.

Stuttgart - Auch wenn der Name nicht fällt – wer mit Richard David Precht über die Mängel des politischen Systems redet, denkt die Machenschaften des Stefan Mappus immer mit. Wie aber lässt sich die Demokratie erneuern? Der 47-jährige Philosoph, der heute Abend im Stuttgarter Theaterhaus auftritt, ermuntert die Bürger zur politischen Teilhabe.
Herr Precht, Sie gehören zu denen, die mit großer Sympathie die Aktionen der Occupy-Bewegung verfolgen. Aber kommen die Proteste der Finanzkritiker nicht viel zu spät?
Nein, warum sollten sie?

Weil wir schon mitten in der Krise stecken.
Zu den Fehlentwicklungen der Märkte ist es ja nicht gekommen, weil sich keiner empört hätte. Es kam dazu, weil England in der Thatcher-Ära die Realwirtschaft zugrunde gehen ließ und stattdessen die Finanzwirtschaft ausbaute. Um sie so stark wie möglich zu machen, hat man die Finanzmarktregulation abgeschafft. Das Fatale war dann, dass andere europäische Länder – auch Deutschland unter Finanzminister Peer Steinbrück – glaubten, dieses Modell der Deregulation kopieren zu müssen. Hinter der ganzen neoliberalen Politik stecken enorme ökonomische Interessen.

Und eine starke Occupy-Bewegung hätte den Dominoeffekt nicht aufhalten können?
Kaum. Thatcher und ihre Epigonen gefielen sich darin, die Finanzmarktkritiker zu ignorieren. Trotzdem: Occupy hat heute natürlich seine absolute Berechtigung. Es gibt mittlerweile auch jenseits kleiner Expertenzirkel ein großes, breites Unbehagen an der Macht der Finanzwirtschaft. Bis vor Kurzem war dieses Unbehagen aber sehr hilflos, es hat sich meist nur privat artikuliert, beim Abendessen im Freundes- und Bekanntenkreis. Occupy gibt diesem Unbehagen nun ein Gesicht und ermöglicht es den Leuten, sich öffentlich zu empören. Occupy hat deshalb vor allem eine Symbolfunktion.

Symbolfunktion? Mit Symbolen allein lässt sich der Finanzmarkt kaum zügeln . . .
Occupy ist trotzdem genau darauf angelegt: auf Symbole! Die Bewegung formuliert ja keine konkreten Ziele, etwa eine Transaktionssteuer in bestimmter Höhe oder die Trennung von Investment- und Privatanlegergeschäften. Occupy ist mithin keine politische Reformbewegung, sondern eine Symbolbewegung: Sie weist auf den Straßen darauf hin, dass etwas, was wir als normal empfinden sollen, nämlich das wahnhafte Treiben der Finanzmärkte, keineswegs normal ist. Occupy hält der Gesellschaft lediglich den Spiegel vor.

Mehr nicht? Probiert Occupy nicht auch neue Formen der politischen Teilhabe aus?
Ja, schon. Aber die Occupy-Bewegung ist nur ein Phänomen unter vielen in der neuen, von Protesten aufgerüttelten Landschaft, in der es die repräsentative Demokratie eben sehr schwer hat. Ich bin in diese Demokratie noch wie selbstverständlich hineingeboren worden, aber bereits die mir nachfolgende Generation lässt sich davon nicht mehr mitnehmen. Leute um die dreißig wollen sich heute nicht mehr repräsentieren lassen, sie repräsentieren sich selbst.

Warum ist das so?
Weil die Leute einer Generation angehören, in der man schon als Kind gefragt wurde, ob man lieber Schokoladenbrei oder Grießbrei haben möchte – und diese Generation schafft sich sehr zielstrebig ihre eigenen Welten und möchte ihre Stimme nicht mehr an Volksvertreter abgeben.