Aber warum kann dieses Spiel mit dem Ernst so ungeheuer viel Trost spenden?
Tröstlich ist es deshalb, weil das Spiel mit dem Ernst den Horizont erweitert. Es führt dem Menschen noch weitere, ungeahnte Spielräume vor Augen! Spielräume, die es ermöglichen, dem Ernst des Lebens mit Ironie zu begegnen, mit Humor, mit Lachen und nicht zuletzt mit Gegenentwürfen, die dem tristen Dasein trotzen. Aus Büchern kann man deshalb sogar etwas Triumphierendes ziehen. Und just dieser Triumph sorgt am Ende wieder für Trost.

Unmittelbarer noch als auf die Hochliteratur dürfte dieser Befund aber auf die private Alltagsliteratur zutreffen. Jeder Tagebuchschreiber . . .
 . . . weiß wohl ganz genau, wovon ich spreche. Gerade im Tagebuch zeigt sich die dem Schreiben innewohnende Kraft, Probleme zu klären oder zu bewältigen, indem man sie in die Sprache hebt. Um noch auf ein anderes Alltagsphänomen zu kommen: Todesanzeigen! Todesanzeigen werden häufig mit Gedichten und Sinnsprüchen versehen, die zwar oft vorgefertigt und schabloniert sind, aber doch eines deutlich zeigen, dass der Instinkt für die Trostkraft der Literatur bei den Menschen durchaus noch vorhanden ist.

Tröstend kann Literatur nicht zuletzt auch dann sein, wenn sie die Flucht in andere Welten ermöglicht, oder?
Diese Weltflucht nennt man zwar vorwurfsvoll Eskapismus, aber zum Vorwurf sehe ich da keinen Grund. Von Enzensberger gibt es ein herrliches, auf den fliegenden Robert aus dem „Struwwelpeter“ gemünztes Gedicht: „Eskapismus? Was denn sonst / bei diesem Sauwetter!“ Auch die Flucht aus der Welt, aus zum Teil selbst gebauten Gefängnissen ist ein Triumph, den uns die Literatur erlaubt. Sie bricht Denk- und Gefühlsblockaden auf und hilft uns, jegliches „Sauwetter“ auch im übertragenen Sinne hinter uns zu lassen. Außerdem ist es immer besser, mehrere Welten zu haben, in denen man lebt. Wer Literatur liebt, hat mindestens noch ein zweites Leben.

Und welches Buch, Herr Safranski, hilft Ihnen persönlich am besten über Sauwetter hinweg? Welches besitzt für Sie die größte Heil- und Befreiungskraft?
(Lange Pause, dann:) Im Augenblick sind es Rousseaus „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“. Hier sucht ein Mensch, mitten aus dem Handgemenge des Alltags und der sogenannten lieben Mitmenschen heraus, eine Selbstbegegnung – und er findet sie mit Hilfe des Denkens und der Sprache. Dieses literarisch-philosophische Werk hat auch nach wiederholtem Lesen noch immer eine unglaublich befreiende und heilende Wirkung auf mich.