Exklusiv Ein festes Engagement geht er nicht mehr ein – und wenn er Theater macht, dann nur noch in Stuttgart: Der Schauspieler Edgar Selge spricht im Interview über die Sehnsucht nach Freiheit, die Abscheu vor Zwangsanstalten und die Lust an der Arbeit.

Stuttgart – - Er ist der Star des Stuttgarter Schauspiels: Als Armin Petras im Herbst als Intendant von der Spree an den Neckar zog, hat er auch Edgar Selge mitgebracht. Ob im Film oder im Theater: Selge, der Ende des Monats 66 wird, zählt zu den gefragtesten Spielern im deutschsprachigen Raum. Am Wochenende steht er mit seiner Frau Franziska Walser wieder auf der Bühne des Staatstheaters.
Herr Selge, geschätzte zwei Mal pro Woche sehe ich Sie im Fernsehen, Wiederholungen eingerechnet. Sind Sie omnipräsent?
Das müssen Sie besser wissen als ich. Ich sehe meine Filme selbst bei der Erstausstrahlung nicht, weil ich sie meistens schon zuvor gesehen habe, im Schneideraum oder in Sondervorstellungen.
Schauen Sie überhaupt Fernsehen?
Ja, aber selten und gezielt: Fußball, Nachrichten, Dokumentationen und ausgewählte TV-Filme. Aber ich bin als Zuschauer eher ein Asket . . .
. . . aber nicht als Schauspieler. Sie sind schon sehr produktiv, oder?
Das ist richtig. Ich mache im Jahr drei oder vier Filme – und wenn ich darin auch Hauptrollen spiele, nimmt das viel Zeit in Anspruch. Kommt dann noch Theater dazu wie jetzt in Stuttgart, habe ich in einem ganzen Jahr womöglich keinen einzigen freien Tag, auch nicht am Wochenende. Ich spiele oder drehe oder lerne Text.
Sind Sie denn unfähig, sich zu entspannen?
Nein, so einfach lässt sich mein Arbeitseifer nicht erklären. Ich habe mir den Beruf ja ausgewählt, weil ich mich spielend, im Umgang mit fremdem Text sehr wohl fühle. Ich bin da zwar angespannt, zugleich aber auch entspannt, also in der Summe sehr vital. Es geht mir gut, wenn ich arbeite. Meine Produktivität hängt aber auch mit den interessanten Angeboten zusammen, die ich bekomme und nur ungern absage.
Zum Beispiel?
Ende April kommt „Miss Sixty“ in die Kinos. Da spiele ich einen dauerjugendlichen Liebhaber mit sechzig, der auf Frauen im Alter seines Sohnes steht und dann bei Miss Sixty landet, die vor Jahrzehnten ihre Eizellen hat einfrieren lassen. Eine Komödie über die Vorurteile, die das Thema der künstlichen Befruchtung bei Spätgebärenden in unserer Gesellschaft auslöst. Die Dialoge sind boshaft und witzig, die weibliche Hauptrolle ist mit Iris Berben auf den Punkt besetzt. Da wollte ich nicht absagen und habe den Urlaub geopfert.
Die immer perfekt wirkende Iris Berben und der immer etwas unperfekt wirkende Edgar Selge – diese Konstellation verblüfft mich.
Ob Ihr Blick auf uns beide stimmt, weiß ich nicht. Ich finde, Iris Berben ist im Komödienfach eine sehr gute Partnerin. Sie ist mit der Comedy-Reihe „Sketchup“ bekannt geworden, hat ein genaues Gefühl für Timing und scheut als schöne Frau, die sie ist, selbst vor extremen Grimassen nicht zurück – auch das ist selten. Und es ist doch egal, ob mein jeweiliger Spielpartner einen anderen Zugang zum Beruf hat als ich. Jeder, wirklich jeder nähert sich anders seiner Rolle an. Und je verschiedener man ist, desto interessanter wird es, den Weg der Kommunikation miteinander zu finden.
Mögen Sie Komödien?
Ja, klar. Die Komödie rangiert bei mir ganz oben. Sie muss allerdings gut geschrieben sein, denn der Auslöser meiner Spielfantasie ist die Sprache.
Dann sind Sie bei Kleist goldrichtig. Mit dem „Zerbrochnen Krug“ feiern sie Triumphe im Stuttgarter Schauspielhaus.
Der „Zerbrochne Krug“ ist die perfekte Komödie schlechthin. Sieben Bühnenfiguren, die zwar alle unterschiedliche Ziele verfolgen, aber eines gemeinsam haben: sie sind alle auf ihre Art verzweifelt. Und aus der Verzweiflung heraus schlägt man die absurdesten Volten, die auf den Betrachter die komischsten Wirkungen haben – was nichts daran ändert, dass die Figuren selber weiterhin grässlichsten Verzweiflungsfeuern ausgesetzt sind, denen sie entkommen wollen. Komödien sind immer Befreiungsversuche, auch für die Schauspieler selbst.
Befreiung wovon? Meine These: Ihr Vater war Gefängnisdirektor, die Väter zweier Ihrer Kollegen, Joachim Meyerhoff und Caroline Peters, haben psychiatrische Kliniken geleitet. Sie alle kommen also, biografisch betrachtet, aus einer geschlossenen Anstalt.
Stimmt. Diese familiäre Herkunft ist auffallend: die Herkunft aus einem gesellschaftlichen Subsystem, das wir freilich durch ein anderes Subsystem mit ebenfalls eigenen Regeln ersetzt haben, dem Theater. Tatsächlich war ich als Kind ein Ausreißer und bin häufig von zu Hause weggelaufen – nicht anders als die Strafgefangenen meines Vaters, die den Aufsichtsbeamten im Heizungskeller eingesperrt, sich mein Fahrrad geschnappt und aus dem Staub gemacht haben. Wenn man so aufgewachsen ist wie ich, entwickelt sich ein starkes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit. Insofern ist „weglaufen“ ein Schlüsselwort in meiner Biografie.
Und wohin sind Sie gelaufen?
Am Ende ins Land der Theatertexte, dann zum Theater selber. Irgendwann hatte ich ja begriffen, dass es Freiheit völlig außerhalb eines Systems nicht geben kann. Für mich war es deshalb schon richtig, eine Institution zu suchen, die sich die Entdeckung der individuellen Freiheit immerhin zum Ziel gesetzt hat. Deshalb bin ich, suchend, wie ich war, am Ende im Theater gelandet. Dass die Realität dort eine andere ist, habe ich erst später gemerkt.