„Manon Lescaut“ ist Ihre erste Puccini-Oper. Wie ist Ihr Verhältnis zu diesem Komponisten?
Als Kind sah ich zuerst „Turandot“, das war in Liverpool. In meinen frühen Zwanzigern folgte dann das „Mädchen aus dem Goldenen Westen“, und „Tosca“ habe ich seltsamerweise erst vor wenigen Jahren auf der Bühne gesehen. Puccinis Musik habe ich immer geliebt, doch ich habe niemals gedacht, dass man mir erlauben würde, sie aufzuführen, obwohl ich mir das immer gewünscht hatte. Ich war dabei, als Giuseppe Sinopoli in London mit „Manon Lescaut“ debütierte, das war mit Plácido Domingo und Kiri Te Kanawa. Was für eine Explosion von einem Stück, dachte ich damals, ein Komponist, der alles beiseitewirft, an das er vorher glaubte. Da ist nichts mehr kalkuliert. Die Berliner Philharmoniker haben übrigens als Letztes mit Karajan „Tosca“ gemacht und seither keine Note von Puccini gespielt, auch weil mein Vorgänger Claudio Abbado Puccini nicht gemocht hat. Das ist also alles sehr interessant für mich, auch da ich von Wagner komme und von all den Komponisten, die (Rattle flüstert) von Puccini gestohlen haben. Wenn Sie „Pelléas et Mélisande“ nehmen und dann den vierten Akt von „Manon Lescaut“: da wird nicht etwas entlehnt, sondern es ist, als ob sich Debussy in den Computer von Puccini gehackt hat. Ähnlich ist es mit dem „Rosenkavalier“, Leoš Janáceks „Kátia Kabanová“ – das ist im Orchester alles „Madama Butterfly“. Wir neigen dazu zu vergessen, wie früh „Manon“ geschrieben wurde, 1893, im gleichen Jahr wie Verdis „Falstaff“, und wie sehr alle, die danach kamen, von Puccini beeinflusst waren.
Carlos Kleiber gab einem Dirigenten, der „Tosca“ vorbereitete, mal den kollegialen Rat: „Wie immer bei Puccini bin ich sicher, dass es das Beste, nein, unabdingbar ist, die ganz verdammte Oper auswendig zu lernen.“ Kleiber schrieb das in einem Brief auf Englisch, also „by heart“. Wie halten Sie es, werden Sie „Manon“ by heart dirigieren?
I will conduct it with heart. Das meiste dirigiere ich auswendig, bei Opern habe ich die Partitur vor mir. Wenn die Proben vorbei sind, ist es schon besser, wenn man das Stück im Kopf hat. Bei der „Manon“ gibt es ein anderes Problem, das nichts mit den vielen kleinen Noten zu tun hat. Man merkt, dass Puccini sehr jung war, man muss das Stück in Fluss halten. Noch ein Wort zu Kleiber, der wohl jeden Dirigenten zu seiner Zeit und danach inspiriert hat. Kleiber hat nicht nur gezeigt, wie etwas zu spielen ist, sondern er wurde geradezu körperlich die Musik, deshalb war es umso wichtiger, frei zu sein. Wenn ich es halb so gut könnte wie Kleiber, wäre ich außer mir vor Freude. Jedenfalls bin ich bereit, wahrscheinlich alles zu tun, um einen körperlichen Ausdruck für die Musik zu finden, egal wie albern es aussieht – ob es funktioniert, ist etwas anderes.
Haben Sie Carlos Kleiber als Operndirigenten erlebt?
Ja, ich saß einmal bei einem „Otello“ in Covent Garden in London mit Bernard Haitink im Orchestergraben – Haitink war damals Chefdirigent des Opernhauses – und wir schauten zu, wie Kleiber dirigierte. Nach zehn Minuten beugte sich Bernard zu mir rüber und flüsterte: „Simon, ich weiß nicht wie es dir geht, aber mein Dirigierstudium beginnt gerade erst.“ So war es für uns alle in Bezug auf Kleiber. Es war eine Meisterklasse, was man machen soll als Dirigent, für die, die es nicht können.
Sie habe ja keine typische deutsche Kapellmeisterlaufbahn absolviert . . .
(lacht) Ich habe mein ganzes Leben versucht, ein Kapellmeister zu sein – irgendwie hat es nicht funktioniert.
Glauben Sie, dass Sie es schwerer hatten, als Sie begannen, Oper zu dirigieren?
Kommt darauf an. Ich habe meine erste Oper in Glyndebourne mit neunzehn dirigiert. Ich habe dort dreißig Opern gemacht. Als ich begann, hatte ich das Glück, nicht ins Repertoire geschmissen zu werden. Beim Glyndebourne Festival hatte ich ausreichend Probenzeit. Eigentlich hätte ich zu Tode erschrocken sein müssen, als ich mit 23 meinen ersten „Rosenkavalier“ einstudiert habe, aber weil ich so wenig wusste, war ich es nicht. Für alle Dirigenten ist das erste Mal schwer. Carlo Maria Giulini sagte mir: „Simon, ich habe zu spät in meinem Leben begonnen, mich mit den letzten Mozart-Sinfonien zu beschäftigen, es fühlt sich immer noch so an, als ob ich kämpfe“ – obwohl Giulinis Aufführungen für mich wunderbar klangen.
Sie sind ein erfahrener Wagner-Dirigent. Was ist dirigiertechnisch gesehen der Unterschied zwischen Wagner und Puccini?
Ohne Ironie: ich kann es Ihnen erst sagen, wenn ich Puccini mit dem Orchester aufgeführt habe. Ich glaube, man braucht eine Art von Flexibilität für diese Musik, auf die man sich kaum vorbereiten kann. Mir wurde neulich ein fantastisches Geschenk von Plácido Domingo gemacht. Er ist mit mir die „Manon“-Partitur durchgegangen und berichtete mir von seinen Erfahrungen als Sänger des Des Grieux und als Dirigent. Er erzählte, wo Renata Scotto als Manon geatmet hat und wo Kiri Te Kanawa, an welchen Stellen der Sänger bestimmte Zeit braucht für gewisse Bewegungen, welche Passage für die Bratschen schwierig ist – das war sehr großzügig von ihm.