Feuerbach war als Industriestandort schon immer ein kultureller Schmelztiegel, in dem Menschen unterschiedlicher Nationalität zusammenlebten. Wo ist da das Problem?
Das Problem ist, dass Kinder und Jugendliche aus diesen Familien oft durch die fehlenden sprachlichen Voraussetzungen schulisch benachteiligt waren und sind. Das drückt sich oftmals auch im Verhalten aus. In dem Fall neigen Kinder und Jugendliche dazu, kompensatorische Verhaltensweisen an den Tag zu legen.
Das heißt, sie werden aufmüpfig und rebellisch: Aber das gab es doch früher auch – den Aufstand der Jungen gegen die Älteren?
Das würde ich nicht vergleichen. Die 1970er und 80er Jahre waren geprägt durch große gesellschaftliche Veränderungen und diese erfassten auch die Jugend. Es gab die Befreiung der Jugend durch Musik, die Liberalisierung im Sexualleben, es gab den Punk, die Rolling Stones und Subkulturen.
Und Sie, Herr Richter, waren damals mittendrin. War das nicht eine spannende Zeit, als der Punk nach Feuerbach kam?
Sicher gab es auch einzelne Punks. Aber bei der Mobilen Jugendarbeit standen eher die Probleme der Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Schichten im Fokus.
Wie war die Situation als Sie hier mit der Arbeit anfingen?
Wir Mobilen waren in einem Haus an der Stuttgarter Straße 164 untergebracht. Das Gebäude gehörte der evangelischen Kirche. Wir waren sehr viel im Wohngebiet Föhrich aktiv. Dort haben wir soziale Quartiersarbeit gemacht. Wir waren Anlaufstation für viele Jugendliche, denn es gab noch kein Jugendhaus in Feuerbach.
War der Föhrich ein sozialer Brennpunkt?
Natürlich war das kein zuckersüßes Wohngebiet. Es gab Konflikte, aber die Jugendlichen mit Migrationshintergrund und auch deren Familien kannten uns, wir waren geschätzt. Wir haben auch öfters Föhrichfeste organisiert und waren in einer Mieterinitiative aktiv. Das war sehr integrativ.
Also ein gelungenes Beispiel für Integration. Gibt es weitere Beispiele?
Ja, wir hatten hier vor allem in den 1990er Jahren eine starke Bewegung, die sich für Breakdance und Rap begeisterte. Es gab begnadete Tänzer. Gruppen wie „Rockin‘ Attack“ oder die „Aktive Artisten“ waren damals weit über die Grenzen von Stuttgart hinaus bekannt. Sie waren regelmäßig bei uns im Haus der Mobilen Jugendarbeit. Zu den Mitgliedern haben wir bis heute einen guten Draht.
Haben sich die Schwerpunkte der Mobilen Jugendarbeit in den vergangenen 40 Jahren stark verändert?
In den 80er und 90er Jahren haben sich mehr Jugendliche auf öffentlichen Plätzen wie vor der Festhalle, am Wilhelm-Geiger-Platz oder im Zentrum von Feuerbach versammelt. Es gab mehr frei verfügbare Zeit. Früher konnten die Jugendlichen ihre sozialen Seiten ausleben, heute ist schon mehr Leistungsdruck da. Sie müssen viel früher an Ausbildung und Beruf denken.
Augen auf bei der Berufswahl, heißt es ja. Wie lief das eigentlich bei Ihnen?
Nach der Schule hatte ich keinen Plan und habe mir wenig Gedanken über Beruf und Zukunft gemacht. Ich bin nach Göttingen gegangen, habe lange Pädagogik und Soziologie studiert. Erst danach habe ich geschaut, was ich damit machen kann. Viele mit meinen Studiengängen sind in Jugendhäusern gelandet oder eben zur Mobilen Jugendarbeit gegangen.
Und wie kamen Sie damals hierher?
Wie die Jungfrau zum Kind. Ich habe nach dem Studium bundesweit Stellenausschreibungen studiert. Zuerst kam ich nach Bietigheim-Bissingen. Dort habe ich in Jugendhäusern gearbeitet. Nach zweieinhalb Jahren bin ich nach Feuerbach gegangen. Ich fand die Arbeit bei der Mobilen Jugendarbeit sehr viel attraktiver, weil sie methodisch und fachlich durchdachter war. Wir haben vier Arbeitssäulen: Streetwork, Gruppenarbeit, Einzelbegleitung und Stadtteilarbeit. Und für uns steht der intensive Beziehungsaufbau zu den jungen Menschen, das Kernstück und das Herz der Arbeit, im Mittelpunkt unseres Schaffens.
Aber ungewöhnlich ist es schon, solange an einem Platz zu bleiben. Heutzutage wechselt man alle paar Jahre den Job.
Bei börsennotierten Unternehmen gilt das sicher zu 100 Prozent.
Was hat Sie zum Bleiben bewegt?
Wer länger bleibt, kann die Früchte der Arbeit ernten. Das gilt besonders in der sozialen Jugendarbeit. Man bekommt, subjektiv gefühlt, mehr zurück als man gegeben hat. Und unser Stadtteil, dieses gute, alte Feuerbach ist mir damit richtig ans Herz gewachsen.
Wie gestalten Sie nun den Ruhestand?
Ich mache seit 35 Jahren Aikido und bin auch Aikido-Lehrer. Zudem habe ich Shiatsu gelernt und biete in einem Raum in Ludwigsburg diese Behandlungstechnik an. Ich habe ein Faible fürs Asiatische.
Und wie wäre es mit einem Ehrenamt zum Beispiel im Jugendbereich?
Das werde ich mit 99prozentiger Sicherheit nicht tun. Das wäre ja eine Fortführung dessen, was ich beruflich gemacht habe. Lieber suche ich mir eine neue, praktische Aufgabe, vielleicht Bäume im Wald pflanzen oder einen Fahrradweg anlegen.