1963 wanderte Hanns-Josef Ortheil entlang der Mosel.Jetzt schreibt er. Ein Gespräch über Landschaften.

Lokales: Armin Friedl (dl)

1963 ist der damals 11-jährige Hanns-Josef Ortheil mit seinem Vater zwei Wochen entlang der Mosel gewandert. Seine damaligen Notizen hat der Autor jetzt in einem Buch veröffentlicht. Ein Gespräch über geschlossene Landschaften und kindliches Schreiben.

 

Herr Ortheil, damals, 1963, haben Sie in der Mosel nach Flusskrebsen gesucht. Danach sucht man heute vergeblich.

So ist es. 1963 gab es noch keine nennenswerte Industrie entlang der Mosel, der Fluss war noch nicht durchgehend befahrbar.

Waren Sie seitdem wieder einmal dort?

Ja, vor kurzem erst. Ich kehre immer wieder gerne zurück an Orte, die sich mir eingeprägt haben, und ich mag geografisch geschlossene Räume. Die Mosellandschaft ist solch ein Raum, denn der Fluss ist auf beiden Seiten von etwa gleich hohen Weinberghängen umgeben. Auch heute ist die Landschaft noch wenig zersiedelt. Um das zu genießen, sollte man aber antizyklisch reisen, also nicht an den Wochenenden.

In Ihren Notizen haben Sie genau beschrieben, wo Sie übernachtet haben, wo Sie gegessen haben. Gibt es denn diese Gaststätten und Hotels noch?

Zu 90 bis 95 Prozent ja. Allerdings waren das früher kleine Lokale oder Herbergen, während es heute Hotels in oft völlig überproportionierten Maßen sind.

Sie erzählen von einer fürchterlichen Nacht in einer Jugendherberge ...

In den 1960er Jahren herrschte in den Herbergen noch ein militärischer Drill, und niemand dachte daran, dass Wanderer, die den ganzen Tag unterwegs waren, sich am Abend einfach etwas erholen wollen. Man hielt diese müden Gesellen eher für eine Truppe, die sich auf den nächsten Krieg vorbereitet. Wir haben deshalb Privatquartiere bevorzugt. In jedem Ort hingen viele Schilder, die solche Quartiere anpriesen. Dort war man in das familiäre Leben eingebunden, nutzte dasselbe Bad und dieselbe Toilette. Für mich als Kind war das sehr ungewohnt. Ich wunderte mich darüber, dass die Quartierbesitzer es mit Fremden auf so begrenztem Raum aushielten.

Fehlte das Geld, um in Hotels zu übernachten?

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass über Geld gesprochen wurde. Es war selbstverständlich, dass man sehr einfach lebte und sich während des Tages selbst versorgte. Das Wandern hatte damals noch eine gewisse Schlichtheit und kam ohne jedes Brimborium und ohne jede Wander-Ideologie aus. Ich gehe heute noch lieber zu Fuß, als mit dem Rad oder Auto zu fahren. Zu Fuß zu gehen – das beschert immer noch das stärkste Landschaftserlebnis.

Wie muss man sich Vater und Sohn unterwegs vorstellen?

Mein Vater ist auf einem Bauernhof auf dem Lande groß geworden. Er hatte zehn Geschwister, vielleicht geriet er deshalb so mühlelos mit anderen Menschen in Kontakt. Ich dagegen war ein Einzelkind, ich hatte es schwerer. Deshalb studierte ich ununterbrochen, wie es meinem Vater so leicht gelang, das Zutrauen der Menschen zu gewinnen. Die Gespräche kreisten um Weinbau oder den Bau der neuen Staustufen. Über Politik oder das Zeitgeschehen sprach man fast nie.

Stand die Begegnung mit Menschen oder die Landschaft bei dieser Reise im Zentrum?

Die Begegnung mit anderen Menschen stand bestimmt im Vordergrund, aber mein Vater interessierte sich auch für jedes Detail der Landschaft und ihre besondere Ästhetik. Diese gleich hohen Weinberghänge auf beiden Seiten des Flusses vermittelten ein starkes Geborgenheitsgefühl. Überhaupt stimmt das Wandern an Flüssen entlang sehr ruhig, mit der Zeit stimmt man sich auf das langsame Flusstempo ein.

War diese knapp zweiwöchige Wanderung für Sie der Aufbruch in die große Welt?

Ich hatte als Kind zuvor in Köln gelebt und war fast nie aus dieser Stadt herausgekommen. Eine so weite und triumphale Flusslandschaft wie die an der Mosel hatte ich noch nie gesehen. Die Leute badeten und schwammen im Fluss, es gab noch viele Fähren.

War diese Reise im Jahr 1963 eine Art Urreise für Sie?

Ja, vielleicht. In späteren Jahren habe ich diese Reise in den verschiedensten Altersstufen noch mehrmals wiederholt. Das mache ich überhaupt gern: immer wieder an dieselben Orte reisen, um sie noch besser kennenzulernen und gleichzeitig zu erleben, wie man sich selbst verändert hat.

Es war aber auch eine Urreise, weil Sie wegen Ihres späten Spracherwerbs noch kaum Kontakte zu anderen Menschen gefunden hatten.

Das stimmt. Ich habe ja erst mit sechs, sieben Jahren richtig sprechen gelernt. Die Reise diente auch dazu, mein Sprachvermögen zu schulen und mich an die große Fremde zu gewöhnen. Das war nicht leicht für mich. Ich hatte damals noch immer Probleme, mit fremden Menschen und Situationen umzugehen.

Wie kann man sich Ihr kindliches Schreiben konkret vorstellen?

Ich habe täglich unaufhörlich notiert und aufgeschrieben, was mir in meiner Umgebung begegnete. Diese Schreiberfahrung wurde durch meinen Vater geprägt. Er wollte mir beibringen, über das Schreiben besser und vollständiger sprechen zu lernen, und er wollte mit allen Mitteln verhindern, dass ich mich wieder in mein frühes Kindheitsschweigen zurückzog. Das Schreiben war ein Lebenserhaltungsprogramm, nur deshalb machte ich das. Das Lob meines Vaters, auch während der Moselreise, hat mir immer wieder neuen Ansporn gegeben.

Wie kam es zur Veröffentlichung Ihrer frühen Notizen?

Meine frühen Notizhefte spielen in meinem Roman "Die Erfindung des Lebens" eine bedeutende Rolle. Irgendwann fragte mich mein Lektor, ob er eines dieser Hefte sehen könne. Er war sofort begeistert und sehr erstaunt. Solche präzisen und lebendigen Aufzeichnungen eines Elfjährigen sind ja eine Seltenheit.

Haben Sie inzwischen an der Mosel aus Ihrem Buch gelesen?

Ja, natürlich. Und jedes Mal war eine solche Lesung auch eine große Zeitreise. Viele Zuhörer erinnerten sich genau, wie es früher an der Mosel ausgesehen hatte. Da wurden dann immer viele Geschichten bis ins Detail erzählt. Von Rivalitäten zwischen den kleinen Orten, vom merkwürdigen Verhalten der Fremden oder davon, welches Ansehen die Mosellandschaft früher in Deutschland hatte.

Haben Sie einen Lieblingsort an der Mosel?

Ja, Bernkastel-Kues. Schuld daran ist der große Nikolaus von Kues, der einmal ein Junge von der Mosel war und später ein großer Kirchenmann und blendener Philosoph geworden ist. Ich habe sein Grab in Rom besucht und viel über ihn gelesen. Eine Zeit lang war er eine Art Stellvertreter des Papstes, der die diplomatischen Dienste des Vatikans lenkte. Bernkastel besitzt so viele schöne Fachwerkbauten, Kues hat eine geradezu klassische Uferfront mit alten Häusern. Darunter ist auch das Haus des großen Theologen, das liebe ich ganz besonders.

Ortheil und das Reisen

Der Autor
Hanns-Josef Ortheil, 51, ist Schriftsteller, Pianist und Professor für kreatives Schreiben. Er lebt in Stuttgart. Zwei seiner Geschwister starben im Zweiten Weltkrieg, danach verstummte die Mutter.

Ortheil hat erst mit sechs Jahren das Sprechen gelernt. Über seine Kindheit hat er in "Die Erfindung des Lebens" (Luchterhand 2009, 22,95 Euro) geschrieben.

Die Reisebücher
"Die Moselreise". Luchterhand 2010, 16,99 Euro. Roman eines Kindes über eine Wanderung. "Venedig. Eine Verführung", Sanssouci 2011, 14,90 Euro. Ein Reisebuch mit Tipps und Rezepten. "Rom. Eine Ekstase". Sanssouci 2009, 14,90 Euro. Innenansichten eines Rom-Liebhabers. Foto: v. Felber