Die Gewerkschaft Verdi hat nach wie vor Hoffnung, einzelne Schlecker-Filialen vor dem endgültigen Aus zu retten. „Ich erwarte von der Landesregierung, dass sie hier hilft“, sagt die Verdi-Landesbezirksleiterin Leni Breymaier im StZ-Interview.

Stuttgart – Die Verdi-Landesbezirksleiterin in Baden-Württemberg, Leni Breymaier, erwartet vom Schlecker-Insolvenzverwalter einen Beleg, dass die Kette mit den von ihm geforderten Lohnkürzungen zu retten gewesen wäre.
Frau Breymaier, was ist bei Schlecker schiefgelaufen?
Es gibt drei Ursachen für die Misere. Das erste Problem heißt Anton Schlecker. Der Firmengründer besaß ursprünglich zwar eine gute Geschäftsidee, hat aber leider 20 Jahre lang zunehmend autistisch agiert: Das konnte man an der Ladenausstattung genauso wie am Umgang mit dem Personal ablesen. Das zweite Problem ist das deutsche Wirtschaftsrecht: Es kann doch nicht sein, dass ein eingetragener Kaufmann allein in Deutschland 30 000 Menschen beschäftigen darf, ohne dass ihm jemand über die Schulter schaut, also ohne Aufsichtsrat und ohne Veröffentlichungspflicht. Das dritte Problem heißt FDP. Die Liberalen sind verantwortlich für den Verlust von 13 000 Arbeitsplätzen.

Warum?
Wenn wir Ende März die Transfergesellschaft bekommen hätten, wäre Schlecker mit Sicherheit zu verkaufen gewesen. Die hohe Zahl der Kündigungsschutzklagen hat Investoren abgeschreckt.

Hätte Ihre Gewerkschaft denn keine Möglichkeiten gehabt, diese Klagen zu verhindern? Schließlich ist es doch alles andere als solidarisch, wenn jeder dritte Betroffene gegen seine Kündigung klagt und damit die Gesamtrettung gefährdet.
Wenn mir – Leni Breymaier – als Schlecker-Mitarbeiterin gekündigt worden wäre, hätte ich auch dagegen geklagt. Dass mir das Hemd näher ist als die Hose, ist doch normal. Ich halte es für absolut legitim, zu schauen, dass man möglichst wenig Nachteile erleidet. Das alles hätte nur mit einer Transfergesellschaft verhindert werden können.

Als Einzelkaufmann agiert Schlecker schon seit 40 Jahren. Vor der Insolvenz wurde die Rechtsform von Ihrer Gewerkschaft aber nie kritisiert.
Das war nicht unser Thema, wir hatten die Vorstellung, dass ein Mensch, der mit seinem Privatvermögen haftet, dieses nicht aufs Spiel setzt. Klar ist, dass das deutsche Insolvenzrecht nicht für Betriebe wie Schlecker taugt. Für Personengesellschaften gibt es nicht den Tatbestand der Insolvenzverschleppung, mir war das nicht bewusst. Die Politik sollte das dringend ändern.

Hat Ihre Gewerkschaft rückblickend alles richtig gemacht?
Es gehört zur Aufgabe einer Gewerkschaft, wenn Arbeitsbedingungen unsäglich sind, diese zu skandalisieren. Das haben wir bei Schlecker gemacht und das würden wir wieder tun, weil die Bedingungen unsäglich waren.

Der Schlecker-Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz sagt, 15 Prozent Lohnverzicht seien das Mindestmaß gewesen, um Schlecker wieder wettbewerbsfähig machen zu können. Verdi hat nur zehn Prozent angeboten.
Die Lohnkosten waren bei Schlecker nicht das Problem. Die Mitarbeiter unterlagen dem Flächentarifvertrag Einzelhandel – mit Stundenlöhnen zwischen 10 und 14 Euro. Solche Beträge sind ja nicht der ganz große Brüller, damit macht man keine großen Sprünge. Das entscheidende Problem war doch, dass die Lohnkosten nie ins Verhältnis zum Umsatz gesetzt wurden. Die Umsätze in den altmodischen unübersichtlichen Filialen waren einfach zu niedrig.

Der Insolvenzverwalter stellt das anders da. Er spricht davon, dass die Verteidigung des Flächentarifvertrags eine Giftpille im Sanierungsprozess war. Sie haben zehn Prozent Lohnverzicht geboten, er wollte 15 Prozent, jetzt gibt es gar keine Arbeitsplätze mehr.
Ich bin sehr davon überzeugt, dass es am Schluss nicht Verdi war, die für das komplette Aus verantwortlich ist. Es waren nicht die fehlenden fünf Prozent, schuld war die FDP. Die Liberalen haben dafür gesorgt, dass es keine Transfergesellschaft gab, weil sie sich gegen staatliche Bürgschaften gestellt haben.

Aber muss man das Desaster nicht in zwei Phasen trennen? Mit der Insolvenz ist das Kind in den Brunnen gefallen. Dann kamen die Transfergesellschaften nicht zustande. In der Folge forderte Geiwitz 15 Prozent Lohnverzicht und Verdi ist nicht darauf eingegangen.
Das Problem liegt woanders. Es ist Geiwitz nicht gelungen, genügend Ware in die Läden zu bekommen. Davon waren wir enttäuscht. Wenn jemand zweimal seine Zahnpasta nicht findet, kommt er doch nie wieder. So floss während der Insolvenz zu wenig Geld in die Kassen. Ich denke, den vom Insolvenzverwalter bestellten Experten der Beratungsfirma McKinsey fehlte einfach die Erfahrung im Filialeinzelhandel.

Hat der Insolvenzberater mit McKinsey auf die falschen Berater gesetzt?
Das kann sein.

Der Insolvenzverwalter sagt, Verdi habe keinen konkreten Vorschlag vorgelegt, wo die nicht zugesagten Personalkosteneinsparungen andernorts zu holen gewesen wären.
Ich glaube nicht, dass es unsere Aufgabe ist, diese Vorschläge zu machen, das ist der Job des Insolvenzverwalters. Uns fehlt nach wie vor der Beleg, dass die weiteren fünf Prozent Einsparungen dann auch wirklich gereicht hätten. Wir kennen das entsprechende Konzept ja nicht.

Sie haben es nie zu Gesicht bekommen?
Leider nicht.

Verdi hat es nicht geschafft, die Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Rettung einzubinden. Auch darüber ist der Insolvenzverwalter enttäuscht.
Wir waren auf allen politischen Ebenen unterwegs. Der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske hat natürlich auch mit der Bundeskanzlerin über eine Finanzierung der Transfergesellschaft geredet. Aber wir sind doch nicht für alles verantwortlich. Am Schluss sind wir wohl auch noch schuld, dass wir im Halbfinale der Europameisterschaft ausgeschieden sind.

Aber warum hat die Öffentlichkeit nie erfahren, wie Bsirskes Gespräche mit der Bundeskanzlerin verlaufen sind?
Das hätte dazu geführt, dass der Gesprächsfaden abgerissen wäre. Ich weiß nicht, wann es sinnvoll ist, einen Gesprächsfaden zu kappen.

Jetzt.
Ich hoffe, die Bundeskanzlerin weiß auch ohne Verdi, was ihre Aufgabe ist. Ich bleibe dabei: die FDP war nie bereit, die Transfergesellschaft zu unterstützen.

Was die FDP will, hat die Kanzlerin in vielen anderen Fragen zuvor meistens auch nicht sonderlich interessiert.
Ja, aber dieses Thema scheint für die angeschlagene FDP eine Chance gewesen zu sein. Und wie die FDP tickt, hat man nach dem endgültigen Scheitern gesehen. Dann hat Wirtschaftsminister Rösler gesagt: „Dann müssen sich die Menschen halt um eine Anschlussverwendung bemühen.“ Menschenverachtender geht es ja kaum!

Aber auch die Landesregierung Baden-Württemberg hätte ja im Alleingang die Bürgschaft über 70 Millionen Euro stemmen können, wenn Ihrem SPD-Parteifreund, Wirtschaftsminister Nils Schmid, die Sache tatsächlich so wichtig gewesen wäre. Die landeseigene Förderbank L-Bank zumindest sah keine grundsätzlichen Einwände.
Ich hätte mir sehr gewünscht, die baden-württembergische Landesregierung hätte im Alleingang für die 70 Millionen Euro gebürgt. Im Vergleich zum überteuerten Kauf der EnBW-Anteile der Vorgängerregierung wäre das ja ein Nasenwasser gewesen. Aber wir geben nicht auf.

Das heißt?
Wir haben bundesweit noch 600 Schlecker-Filialen, die mehr als 500 000 Euro Jahresumsatz machen, die sollten weiterbetrieben werden. Zum Beispiel als Genossenschaften. Das gilt auch für die Filialen in den kleineren Ortschaften. Darum ringen wir mit der Landesregierung. Zudem muss es für die Frauen Qualifizierungsmaßnahmen geben.

Und wer soll Genosse werden? Das Land, die Mitarbeiter, die Gewerkschaft?
Auch die Kommunen, denen jetzt ein Laden fehlt. Ich erwarte von der Landesregierung, dass sie hier hilft, dass sie gegebenenfalls bürgt, damit auch Lieferanten gefunden werden.

Mit Ihren wiederbelebten Filialen übernähmen Sie dann aber auch alle Rechtsrisiken, also auch die Kündigungsschutzklagen.
Das sehen wir nicht so, wir stufen das als vollständige Neugründung in alten Räumen ein.

Am Schluss lagen die Kosten pro Filiale und Tag doch gerade mal 30 Euro zu hoch, um Schlecker in die Gewinnzone zu bringen. Hätte die Sanierung vor diesem Hintergrund nicht einfach gelingen müssen?
Es lag doch nicht an den Kosten, es lag an den Umsätzen. Es gab zu wenig Ware in den Läden und deshalb wurde zu wenig eingenommen. Nochmals: natürlich hätten wir die Kosten senken können, die Mitarbeiter hätten am Schluss natürlich auch noch Geld mitbringen können, um dort arbeiten zu dürfen.

Lassen Sie uns über das von Ihnen zuvor Erreichte reden: Eigentlich waren Sie in der Tarifpolitik sehr erfolgreich. Am Schluss hat Schlecker sogar die höchsten Löhne in der gesamten Drogeriebranche gezahlt.
Das sehe ich nicht so, die Großen in der Branche bezahlen meines Wissens alle nach Tarif.

Eva Strobel, die Chefin der Arbeitsagenturen in Baden-Württemberg, berichtet, dass sie Probleme hat, die Schlecker-Mitarbeiter zu vermitteln, weil viele Angebote auch von Konkurrenten nicht zumutbar seien.
Ich finde die Aussage empörend. Sind wir schon so weit, dass gezahlte Tariflöhne ein Vermittlungshemmnis sind? Ich glaube, dass Frau Strobel davon ablenken will, dass es schwierig ist, eine 53-jährige Frau, die 20 Jahre für Schlecker gearbeitet hat, auf diesem Arbeitsmarkt unterzubringen. Sie kriegen momentan nur schlechte Arbeit, Leiharbeit, befristete Verträge und Hungerlöhne angeboten. Das hat damit zu tun, dass der Arbeitsmarkt nur Prekariat hergibt.

Sie könnten die Aussagen von Frau Strobel auch als Steilvorlage betrachten und sich um die anderen großen Drogerieketten kümmern. Bei DM und Rossmann ist Verdi ja nicht besonders gut organisiert.
Ja, aber auch bei Schlecker hat es sehr lange gedauert, bis wir Zugang bekommen haben. Es ist bei der hohen Fluktuation für uns als Verdi schwer, den Zugang zu den Ketten zu bekommen. Aber Sie haben recht: bei DM und bei Müller haben wir flächendeckend noch keinen guten Zugang.

Gibt es aus Ihrer Sicht Lehren aus dem Fall Schlecker?
Wir brauchen dringend eine Gesetzesänderung, dass Einzelkaufleute mit Tausenden von Beschäftigten auch einen Aufsichtsrat einrichten müssen, veröffentlichungspflichtig werden und die Regeln für die Insolvenzverschleppung gelten. Zudem wäre es wichtig, dass der Tarifvertrag im Einzelhandel wieder allgemeinverbindlich wird, damit für alle dieselben Spielregeln gelten.

Haben Sie die langfristige Wirkung Ihrer Kampagne gegen Schlecker unterschätzt? Hätten Sie nicht wieder viel deutlicher für Schlecker werben müssen, nachdem Sie vor zwei Jahren alles erreicht hatten, wofür Sie eingetreten waren, die Firma die meisten Betriebsräte der Branche hatte und flächendeckend Tariflöhne bezahlt wurden?
Ich glaube, Sie überschätzen den Einfluss unserer Kampagnen. Wir hätten gerne so viel Einfluss, wie Sie uns hier zubilligen.