Lokales: Mathias Bury (ury)
Wie und in welchem Umfang engagieren sich Muslime für Flüchtlinge?
Die Moscheegemeinden helfen vor allem punktuell. Viele haben im Ramadan für Flüchtlinge gekocht, an 30 Abenden. Es gibt Sammelaktionen, Kinderspieltage, man feiert zusammen. Aber die Muslime weisen immer auch darauf hin, dass das für sie ein neues Aufgabengebiet ist, für das sie keine Experten haben. Sie weisen auf ihre ehrenamtlichen Strukturen hin.
Sind die so schlecht?
Ehrenamtliche in einer Kirchengemeinde haben doch immerhin Koordinatoren, das haben die Muslime nicht. Dabei merkt man, dass die Flüchtlingshilfe für die Muslime ein wunder Punkt ist. Das ist im Grunde eine religiöse Pflicht, weil Mohammed selbst einmal Flüchtling war. Ich sage den Kommunen deshalb: Sprecht mit euren Moscheegemeinden, schaut, dass ihr im Verbund der drei Partner was macht – Kommune, Kirche, Moscheegemeinde.
Das Verständnis der Muslime für Flüchtlinge aus islamischen Ländern dürfte ja doch größer sein als bei anderen?
Viele Menschen glauben, alle Muslime sprechen arabisch – dem ist aber nicht so. Von den vier Millionen in Deutschland ansässigen Muslimen gehören etwa 65 Prozent zur türkischen Community, die sprechen nicht arabisch. Die Flüchtlinge sind auch vielen Muslimen hier fremd. Und es gibt muslimische Gemeinden, die auch Angst haben. Stellen Sie sich vor, jemand wie der Chemnitzer Attentäter käme monatelang zum Gebet in eine Moschee und würde dann einen Anschlag verüben. Er wäre eine Gefahr für die Gemeinde, man würde die Gemeinde mit ihm in Verbindung bringen.
Ein Problem der Kommunen ist die zersplitterte Verbandslandschaft der Muslime.
Das ist so. Es ist sehr wichtig, dass die muslimischen Verbände Strukturen aufbauen, über die Bundes- und Landesebene hinaus. Kommunen und Kirchen müssen vor Ort feste Ansprechpartner haben, die das als Job machen und zur Verfügung stehen. Manche Integrationsbeauftragte sagen: Man kontaktiert die Moscheegemeinde, aber erreicht keinen. Der Imam ist nett, spricht aber kein Deutsch, der Vorstand ist nur sonntags da. Es ist für die Zukunft der muslimischen Verbände notwendig, über diesen Strukturaufbau nachzudenken. Es braucht Ansprechpartner auch in den kleineren Gemeinden, die gut Deutsch sprechen, die sich gut vernetzen können.
Die Entwicklung in der Türkei erweist sich als Problem. Insbesondere der türkische Moscheeverband Ditib, der größte der Republik, steht seit einiger Zeit massiv in der Kritik.
Irritierend ist, dass man jetzt so tut, als würde man die Loyalität von Ditib zum türkischen Staat erst seit zwei Monaten kennen. Dass der Verband an der türkischen Religionsbehörde hängt, dass die Imame türkische Staatsbeamte sind, wusste man schon vor zwei Jahrzehnten.
Heute kann man manchmal den Eindruck bekommen, als sei aber auch jede Ditib-Gemeinde von Ankara gesteuert.
Ditib hat bundesweit 900 Moscheegemeinden. Wenn Ankara die alle steuern möchte, haben die viel zutun. Ich glaube das nicht. Und Ditib ist immer schon beim Dialogprozess dabei gewesen. Allerdings höre ich, dass die Ditib-Gemeinden nicht mehr so zuverlässig sind, wie sie es mal waren. Ob das mit der politischen Situation zusammenhängt, kann ich nicht bewerten.
Es gibt Gruppen, die bis heute aus dem Dialog ausgeschlossen sind, zum Beispiel Milli Görüs. Ist das noch vertretbar?
Bei Milli Görüs gibt es immer mehr Leute, die sagen, man muss mit diesem Verband zumindest auf kommunaler Ebene sprechen, weil es Entwicklungen gibt. Die ersten Bundesländer beobachten den Verband schon nicht mehr. Milli Görüs hat sich in weiten Teilen geöffnet. Ich sage den Kommunen immer: Schaut euch den Verfassungsschutzbericht an, schaut, welche Vorbehalte es gibt. Die Verfassungsschützer sagen auch nicht, der Verband sei eine Gefahr für die Gesellschaft. Wichtig ist: Ist die Gemeinde vor Ort Beobachtungsobjekt? In den meisten Fällen wird gar nicht die Gemeinde beobachtet. Man muss wissen: Milli Görüs ist der zweitgrößte Moscheeverband in Deutschland mit vielen Moscheegemeinden, mit viel Potenzial, mit Öffnungsprozessen in der Jugendarbeit. Das Klientel ist konservativ, aber nicht radikal. Die Stadt Stuttgart ist aber gebunden an den Verfassungsschutzbericht. Wenn eine Gruppe darin vorkommt, dürfen sie in der Regel nicht mit ihr kooperieren.
Zurzeit wird nur über Religion gesprochen. Wie viele Muslime sind überhaupt religiös?
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Was verstehen wir unter religiös? Manche halten sich an Gebote, andere sagen, der Glaube ist mir wichtig, halten sich aber nicht an die Gebote. Allgemein kann man sagen: Selbst Muslime aus der eher säkularen Ecke fühlen sich dem Islam zugehörig. Man hört kaum, dass jemand Atheist ist. Aber es gibt auch viele sakuläre Gruppen. In den letzten Jahren ist bei Muslimen der Bezug zur Religion aber stärker geworden.
Wie kommt es zu der Rückbesinnung?
Die Muslime haben dauernd das Gefühl, unter Druck zu stehen. Junge Muslime sagen oft: Wir sind hier geboren, aufgewachsen, sprechen Deutsch perfekt, wir studieren – aber wir werden immer auf unseren Glauben reduziert. Vor dem 11. September waren sie die Türken oder die Ausländer, seither spricht man von den Muslimen im Kollektiv, das ist ein großer Fehler. Deshalb beschäftigen sich immer mehr aus Trotz mit dem Glauben oder suchen sich eine neue Identität, gerade junge Muslime.
Manchmal kann man aber schon fragen, ob Islam und Moderne zusammengehen?
Ich glaube, das hat mehr mit der Kultur als mit der Religion zutun. Auch arabische Christen haben eine andere Einstellung zum Familienleben, zur Rolle der Geschlechter als man das hierzulande hat.